Influencer sorgen mit Gender-Esoterik für Kritik
Weibliche und männliche Energie – die Begriffe boomen im Netz. Harmlose Esoterik oder neu verpackte Frauenfeindlichkeit?
Das Wichtigste in Kürze
- Die Schlagwörter «männliche» und «weibliche Energie» sind derzeit überall.
- Damit werben Influencerinnen und Influencer für traditionelle Gender-Rollen – oder dagegen.
- Das sorgt für Kritik. Eine Forscherin will zum Nachdenken anregen.
Den Begriffen begegnet man im Netz oft: «weibliche» und «männliche Energie». Vor allem Gender-Coaches brauchen sie gerne.
Ein Beispiel ist die deutsche Weiblichkeitsinfluencerin Giulia Nikolic. Sie schreibt auf Instagram: «Ich lebte zehn Jahre lang so sehr in meiner männlichen Energie, dass ich nie eine Pause machen konnte.»
Sie sei single gewesen, erfolgreich, habe viel Geld verdient. Aber glücklich sei sie nicht gewesen. Bis sie geheiratet habe, Kinder kriegte und von ihrem Mann «in Rente geschickt» wurde. Dann fand sie den Grund für ihr «krankhaft ehrgeiziges» Verhalten: «Meine verwundete weibliche Energie.»
Arbeiten als Mutter «ist dumm»
Die Botschaft: In der weiblichen Energie zu sein, bedeutet, Ehefrau und Mutter zu sein. Tut man das, ist man glücklich. Ist man dagegen «unabhängige, emanzipierte Karrierefrau», dann ist man in der männlichen Energie. Und das macht unglücklich.
Der Post sorgt für Ärger, aber auch vehemente Zustimmung. Er hat fast 17'000 Likes und jede Menge Kommentare, der Ton ist rau. Eine Instagram-Nutzerin weist darauf hin, dass man als Frau auch an die eigene Altersvorsorge denken sollte. «Auch mit Kindern kann man Teilzeit arbeiten.»
Die Antwort der Frauen-Influencerin: «Ja, kann man, ist aber dumm.» Mit der Aussage löst sie die nächste Kritikwelle aus – und wird in den Kommentaren als «hochtrabend» bezeichnet.
Sportlich erfolgreiche Frau ist «in männlicher Energie»
Auch Männlichkeitstrainer sprechen gerne von Energien. Zum Beispiel Arsim Muslija. SRF zeigte den Männer-Mentor in einer Doku kürzlich beim Kräftemessen gegen eine Frau. Die beiden schaffen die Übung gleich lang, also winkt er ab: «Wäre sie in der weiblichen Kraft gewesen, hätte sie aufgegeben.»
Ist das einfach Frauenfeindlichkeit neu verpackt?
Zumindest eine Aussage, «die tatsächlich triggern kann», findet Mario Meier von «Men Spirit». Auch er ist Männer-Mentor, doch vielem, was Muslija sagt, stimmt er nicht zu, wie er bei Nau.ch erklärt.
«Meine Haltung dazu: Zwischen der weiblichen und der männlichen Energie gibt es keine Konkurrenz, dies ist nur im alten Denken so.» Beides sei genau gleich viel wert.
Männer haben «Angst» vor ihrer weiblichen Energie
Aber was ist das eigentlich genau, weibliche oder männliche Energie? Meier sieht diese Kräfte als zwei Pole, die sowohl Männer als auch Frauen in sich haben. Sie seien Ausdruck einer Kraft, die man besser fühlen als erklären könne. Es gehe um Tugenden.
«Einfach erklärt: Männliche Tugenden sind vor allem ‹im Aussen› spürbar, zum Beispiel Klarheit, Mut, Tapferkeit, Zielorientierung. Weibliche ‹im Innen›, zum Beispiel Inspiration, Intuition, Hilfsbereitschaft, Verletzlichkeit.»
Ideal sei es, wenn beide Energien bei Mann und Frau ausgeglichen seien. «Aber gerade Männer finden das komisch, wenn sie mit ihren weiblichen Anteilen in Kontakt kommen sollen. Sie haben Angst davor, mit dem Weiblichen in Verbindung gebracht zu werden.» Schliesslich werde das im alten Männerbild mit Schwäche gleichgestellt.
«Sehr traditionelle Vorstellung von Geschlecht» neu verpackt
Mit Wissenschaft haben die Energien nichts zu tun, stellt Geschlechterforscherin Diana Baumgarten von der Universität Basel bei Nau.ch klar. Neu ist das Konzept jedoch nicht.
Schon ab dem 19. Jahrhundert sei nämlich versucht worden, die Charaktermerkmale von Männern und Frauen zu definieren. «Dabei war der Wunsch leitend, ein Ideal von Männlichkeit und Weiblichkeit zu entwerfen.»
Dass mit den Begriffen Sexismus einfach neu verpackt wird, denkt sie weniger. «Wohl mehr eine sehr traditionelle Vorstellung von Geschlecht.»
Kein Zufall ist, dass diese Energien und damit der Wunsch nach Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen gerade jetzt so populär sind. Es handelt sich um eine Art Gegentrend.
Denn die klassischen Geschlechterrollen und -erwartungen lösen sich allmählich auf, was Verunsicherung auslöse. «Konkret: Wir können heute mehr als zwei Geschlechter sein und das je nach Land auch amtlich anerkennen lassen. Gleichzeitig gibt es zunehmenden Hass und Anfeindungen gegen Lebensformen, die nicht der Tradition entsprechen.»
Expertin sieht Trend kritisch
Baumgarten sieht den Energien-Trend kritisch. Sie will dazu anregen, über die Vor- und Nachteile progressiver und traditioneller Geschlechtervorstellungen nachzudenken. «Wie ist es denn, als Paar auf ein traditionelles Modell zu setzen, in dem die Frau finanziell abhängig ist? Und das bei einer Scheidungsrate von fast 50 Prozent?»
Oder: «Wie ist es denn, als Mann die alleinige Verantwortung für das Familieneinkommen zu haben? In einer Zeit, in der die wenigsten Jobs auf ein ganzes Berufsleben hin sicher sind? Wäre es nicht sinnvoller, dieses Risiko zu minimieren?»