Integrative Schule: Klügere Kinder leiden an Unterforderung

Sina Barnert
Sina Barnert

Köniz,

Seit Jahren ist die integrative Schule ein Zankapfel. Das System orientiere sich an den Schwächeren, wird moniert. Was bedeutet das für klügere Kinder?

Integrative Schule
Die integrative Schule richte sich zu sehr nach den schwächeren Schulkindern, sagen Kritiker. Stimmt das? - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Die integrative Schule steht in der Kritik. Sie sei nur auf Schwächere ausgerichtet.
  • Grosse und heterogene Klassen zu unterrichten, sei herausfordernd, sagt Dagmar Rösler.
  • Integration könne nur klappen, wenn es genug Lehrpersonen gebe, findet ein Experte.

Es ist seit langem ein politisch umstrittenes Thema: das integrative Schulsystem.

Besonders rechte Parteien positionierten sich in der Vergangenheit dagegen. Der Vorwurf: Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Niveaus würden künstlich «gleich gemacht». Dies gehe zulasten der besseren Schulkinder, nütze niemandem und sei zu teuer.

Wie findest du das Modell des integrativen Schulunterrichts?

Doch stimmt das wirklich? Leiden Schülerinnen und Schüler ohne Lernschwäche und sonstiges Sondersetting in der integrativen Schule?

Eltern klagen über mangelhafte Förderung

Ja, sagt Familienpsychologe Felix Hof gegenüber Nau.ch: «Ich betreue immer wieder Eltern und Kinder, die sich über das integrative Schulsystem beklagen.» Kritikpunkte seien das Unterrichtsklima, das Tempo und die Inhalte.

Felix Hof
Psychologe Felix Hof betreute auch schon Familien, die mit dem integrativen Schulsystem unzufrieden sind. - felixhof.ch

«Eltern von begabten oder hochbegabten Kindern reklamieren zu wenig inhaltliche Forderungen im Unterricht», so Hof. Sprich: Den Kindern ist langweilig. Damit gehe auch zu wenig Förderung sowie zu wenig Respekt vor der persönlichen und geistigen Ausstattung des Kindes einher.

Dem pflichtet Verena Hofer bei, die eine Beratung für Begabungsförderung leitet: «Meiner Erfahrung nach ist das integrative Schulsystem vorwiegend auf lernschwächere Kinder ausgerichtet.»

Integrative Schule: Schwächen- statt stärkenorientiert

Es sei nach wie vor defizitorientiert und weniger stärkenorientiert, so Hofer weiter. Das liege in der Mentalität und Tradition der Schweiz.

Doch was bedeutet es für ein Kind konkret, wenn es in der Schule nicht ausreichend gefördert und stattdessen vernachlässigt wird?

Psychologe Hof erklärt: «Unterforderte Kinder fühlen sich vom Bildungssystem nicht wahrgenommen, damit abgewertet und nicht ernst genommen. Sie beginnen, sogenannte ‹Nebengeschäfte› im Unterricht zu betreiben.»

Diese seien sehr vielfältig: «Schwatzen, verbotenerweise mit dem Handy gamen, Leistungsschwache hänseln, und so weiter.» Es gebe aber auch Kinder, die sich dann sehr für Leistungsschwächere einsetzen würden, quasi zu Mentoren der Klassengspänli würden.

Kinder passen Lerninhalte gegen «unten» an

Zudem würden sich viele betroffene Kinder «dem Lerntempo als auch dem Lerninhalt gegen ‹unten› anpassen», sagt Verena Hofer. Sie kämen so nie an eine Leistungsgrenze. Dies könne «zu Beschwerden wie Unwohlsein, Kopf- oder Bauchschmerzen, Depressionen oder Schulverweigerung führen».

Dass die integrative Schule Probleme hat, ist auch den Lehrerinnen und Lehrern bekannt. Ein Nau.ch-Leser, der in der Region Bern unterrichtet, meint dazu: «Die integrative Schule wäre eine gute Idee.»

Die Kinder würden dadurch Sozialkompetenz lernen, es gäbe mehr Chancengleichheit. Aber: Es fehle an Ressourcen. Und so fokussiere man sich eher auf die Schülerinnen und Schüler, die mehr Unterstützung bräuchten.

Zudem seien es zum Teil einzelne Schülerinnen oder Schüler, die eine ganze Klasse auf Trab halten würden. Das sei ermüdend, nicht nur für die Lehrperson.

Handlungsbedarf in heutigen Strukturen

Dem pflichtet Dagmar Rösler bei, Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbands: «Es ist sehr herausfordernd, grosse Klassen mit einer grossen Heterogenität zu unterrichten und dabei möglichst allen gerecht zu werden.»

Dagmar Rösler
Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbands. - keystone

Die noch immer aktuelle Situation des Personalmangels an den Schulen mache die Sache nicht einfacher, so Rösler. «Der Lehrerinnen- und Lehrerverband unterstützt den Gedanken der integrativen Schule im Sinne von Integration wo möglich, Separation wo nötig.»

Es gebe aber Handlungsbedarf in den heutigen Strukturen, weiss Rösler. «Es braucht gewisse Veränderungen, damit die integrative Schule möglichst allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden kann.»

Eltern sollten Gespräch mit der Schule suchen

Er rate Eltern von unterforderten Kindern, mit den Lehrkräften in Kontakt zu treten, sagt Felix Hof. So könnten dem Kind zusätzliche Lernmöglichkeiten eröffnet werden.

Hast du Kinder im schulpflichtigen Alter?

Das rät auch Verena Hofer. Und ergänzt: «Manchmal hilft es auch, das Kind abklären zu lassen. Ist eine überdurchschnittliche Begabung oder eine Hochbegabung belegt, ist es in der Regel einfacher, bei der Schule Gehör zu finden.»

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Kommentare

User #2802 (nicht angemeldet)

Wird alles besser in der 12 Mio Schweiz sagt die SP

User #3350 (nicht angemeldet)

Meine beiden Kinder haben unter dieser Schulform massiv gelitten. 9 Jahre Langeweile total. Da wundern sich die Lehrer, warum ihnen - neben dem banalen Schulstoff - viel Unsinn eingefallen ist. Meinen Rat nach mehr Förderung wurde ignoriert. Ich habe dann die Beschwerden ignoriert

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