Integrative Schule: Klügere Kinder leiden an Unterforderung
Seit Jahren ist die integrative Schule ein Zankapfel. Das System orientiere sich an den Schwächeren, wird moniert. Was bedeutet das für klügere Kinder?
Das Wichtigste in Kürze
- Die integrative Schule steht in der Kritik. Sie sei nur auf Schwächere ausgerichtet.
- Grosse und heterogene Klassen zu unterrichten, sei herausfordernd, sagt Dagmar Rösler.
- Integration könne nur klappen, wenn es genug Lehrpersonen gebe, findet ein Experte.
Es ist seit langem ein politisch umstrittenes Thema: das integrative Schulsystem.
Besonders rechte Parteien positionierten sich in der Vergangenheit dagegen. Der Vorwurf: Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Niveaus würden künstlich «gleich gemacht». Dies gehe zulasten der besseren Schulkinder, nütze niemandem und sei zu teuer.
Doch stimmt das wirklich? Leiden Schülerinnen und Schüler ohne Lernschwäche und sonstiges Sondersetting in der integrativen Schule?
Eltern klagen über mangelhafte Förderung
Ja, sagt Familienpsychologe Felix Hof gegenüber Nau.ch: «Ich betreue immer wieder Eltern und Kinder, die sich über das integrative Schulsystem beklagen.» Kritikpunkte seien das Unterrichtsklima, das Tempo und die Inhalte.
«Eltern von begabten oder hochbegabten Kindern reklamieren zu wenig inhaltliche Forderungen im Unterricht», so Hof. Sprich: Den Kindern ist langweilig. Damit gehe auch zu wenig Förderung sowie zu wenig Respekt vor der persönlichen und geistigen Ausstattung des Kindes einher.
Dem pflichtet Verena Hofer bei, die eine Beratung für Begabungsförderung leitet: «Meiner Erfahrung nach ist das integrative Schulsystem vorwiegend auf lernschwächere Kinder ausgerichtet.»
Integrative Schule: Schwächen- statt stärkenorientiert
Es sei nach wie vor defizitorientiert und weniger stärkenorientiert, so Hofer weiter. Das liege in der Mentalität und Tradition der Schweiz.
Doch was bedeutet es für ein Kind konkret, wenn es in der Schule nicht ausreichend gefördert und stattdessen vernachlässigt wird?
Psychologe Hof erklärt: «Unterforderte Kinder fühlen sich vom Bildungssystem nicht wahrgenommen, damit abgewertet und nicht ernst genommen. Sie beginnen, sogenannte ‹Nebengeschäfte› im Unterricht zu betreiben.»
Diese seien sehr vielfältig: «Schwatzen, verbotenerweise mit dem Handy gamen, Leistungsschwache hänseln, und so weiter.» Es gebe aber auch Kinder, die sich dann sehr für Leistungsschwächere einsetzen würden, quasi zu Mentoren der Klassengspänli würden.
Kinder passen Lerninhalte gegen «unten» an
Zudem würden sich viele betroffene Kinder «dem Lerntempo als auch dem Lerninhalt gegen ‹unten› anpassen», sagt Verena Hofer. Sie kämen so nie an eine Leistungsgrenze. Dies könne «zu Beschwerden wie Unwohlsein, Kopf- oder Bauchschmerzen, Depressionen oder Schulverweigerung führen».
Dass die integrative Schule Probleme hat, ist auch den Lehrerinnen und Lehrern bekannt. Ein Nau.ch-Leser, der in der Region Bern unterrichtet, meint dazu: «Die integrative Schule wäre eine gute Idee.»
Die Kinder würden dadurch Sozialkompetenz lernen, es gäbe mehr Chancengleichheit. Aber: Es fehle an Ressourcen. Und so fokussiere man sich eher auf die Schülerinnen und Schüler, die mehr Unterstützung bräuchten.
Zudem seien es zum Teil einzelne Schülerinnen oder Schüler, die eine ganze Klasse auf Trab halten würden. Das sei ermüdend, nicht nur für die Lehrperson.
Handlungsbedarf in heutigen Strukturen
Dem pflichtet Dagmar Rösler bei, Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbands: «Es ist sehr herausfordernd, grosse Klassen mit einer grossen Heterogenität zu unterrichten und dabei möglichst allen gerecht zu werden.»
Die noch immer aktuelle Situation des Personalmangels an den Schulen mache die Sache nicht einfacher, so Rösler. «Der Lehrerinnen- und Lehrerverband unterstützt den Gedanken der integrativen Schule im Sinne von Integration wo möglich, Separation wo nötig.»
Es gebe aber Handlungsbedarf in den heutigen Strukturen, weiss Rösler. «Es braucht gewisse Veränderungen, damit die integrative Schule möglichst allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden kann.»
Eltern sollten Gespräch mit der Schule suchen
Er rate Eltern von unterforderten Kindern, mit den Lehrkräften in Kontakt zu treten, sagt Felix Hof. So könnten dem Kind zusätzliche Lernmöglichkeiten eröffnet werden.
Das rät auch Verena Hofer. Und ergänzt: «Manchmal hilft es auch, das Kind abklären zu lassen. Ist eine überdurchschnittliche Begabung oder eine Hochbegabung belegt, ist es in der Regel einfacher, bei der Schule Gehör zu finden.»