Reguläre Schulen lassen Freikirchen Unterricht mitbestimmen
Christlich-fundamentalistische Eltern mischen sich bei den Schulen ein – und dürfen über den Unterricht ihrer Kinder mitbestimmen. Ein Experte übt Kritik.
Das Wichtigste in Kürze
- Streng religiöse Eltern bestimmen über den Unterricht an regulären Schulen mit.
- An vielen Schulen dürfen sie ihre Kinder vom Aufklärungsunterricht dispensieren lassen.
- Experten kritisieren das scharf – und fordern den Staat zum Handeln auf.
Fundamentalistische Freikirchen bestimmen in der Schweiz indirekt den Unterricht an regulären Schulen mit. Das zeigt ein Beispiel aus einer ländlichen Berner Gemeinde*.
An der dortigen Schule werden seit Jahren Gesuche von christlichen Familien bewilligt, die ihre Kinder nicht aufklären wollen. Das berichten Nau.ch diverse Quellen unabhängig voneinander.
Zöpfe, Röcke und zehn Geschwister
«In meiner Schulzeit gingen viele Kinder und Jugendliche aus solchen Familien an die Schule. Die Mädchen trugen Zöpfe und Röcke», erinnert sich eine ehemalige Schülerin. «Sie hatten alle um die zehn Geschwister.»
Was sie erstaunlich findet: «Die Eltern liessen die Jugendlichen jeweils vom Sexual-Aufklärungsunterricht dispensieren – das wurde bewilligt.» Nau.ch weiss von mindestens fünf Fällen, in denen das so geschah, zuletzt im Jahr 2019.
Aus Datenschutzgründen will das die Schule weder bestätigen noch verneinen. Man halte sich an die kantonale Verordnung und an den Lehrplan 21. «Zudem sind wir an einer guten Zusammenarbeit mit allen Eltern interessiert», sagt der Schulleiter auf Anfrage.
Sektenexperte Georg Otto Schmid glaubt, dass es sich bei den Familien um Mitglieder der Bibelgemeinde EBG handelt. «Diese Gemeinschaft setzt in Frisur und Kleidung die Regeln fort, die im 20. Jahrhundert im damaligen Evangelischen Brüderverein EBV galten.»
Er stuft die EBG zwar nicht als Sekte, jedoch als «fundamentalistische Organisation am Rand der Freikirchenszene» ein. «Die Kontrolle der Mitglieder besteht aus Gruppendruck, ein eigentliches Überwachungssystem wie in Sekten fehlt», begründet Schmid.
Viele Schulen erlauben Aufklärungs-Dispensation
Dass streng religiöse Eltern den Unterricht an der öffentlichen Schule mitbestimmen, dürfte kein Randphänomen sein. Diverse Deutschschweizer Bildungsdirektionen kennen entsprechende Regeln, wie eine Umfrage von Nau.ch zeigt.
In Bern heisst es zwar, der Aufklärungsunterricht sei obligatorisch. Aber: «Die Eltern haben die Möglichkeit, ihr Kind von einzelnen Unterrichtssequenzen des Sexualunterrichts dispensieren zu lassen.» Auch in Zürich und der Aargau können Kinder in begründeten Ausnahmefällen vom Unterricht dispensiert werden.
In Thurgau dagegen gibt es «keine Dispensationsmöglichkeit aus konfessionellen oder weltanschaulichen Gründen.» Ähnliches gilt in St. Gallen. Zusammengefasst: Dispensationen sind in der Schweiz nicht überall, aber an zahlreichen Schulen möglich.
Kindern wird «Teil ihres Rechts auf Bildung geraubt»
Das sorgt für Kritik. «Aus meiner Sicht ist eine fehlende Aufklärung in vielerlei Hinsicht problematisch», sagt Kriminologe Dirk Baier zu Nau.ch.
«Zum Beispiel mit Blick auf frühe Schwangerschaften, die fehlende Vorbereitung auf Paarbeziehungen und so weiter.» Sexualaufklärung sei zudem auch ein kleiner Baustein für die Prävention von sexuellem Missbrauch.
Und Religionsexperte Schmid bemängelt: «Kindern und Jugendlichen aus radikalen religiösen Gemeinschaften wird damit ein Teil ihres Rechts auf Bildung geraubt.»
Sektenexperte fordert Staat zum Handeln auf
Manche fundamentalistischen Familien würden auf jede Aufklärung – auch Zuhause – verzichten. Sie glauben, «die jungen Leute sollen von den Tieren lernen, wie es geht». «Wer so aufwächst, hat keinerlei Basis für einen guten Umgang mit dem komplexen Thema Sexualität. Hier ist der Staat gefordert», stellt Schmid klar.
Die Aufklärungs-Dispensationen könnten zudem ein Fass ohne Boden öffnen: «Für manche radikale Gemeinschaft sind weite Bereiche des Schulstoffs unpassend. Man denke an esoterische Menschen, die die Erde für eine Scheibe halten und grosse Teile der Naturwissenschaften als Lüge abtun.»
Schmid befürchtet: Erlaubt man Aufklärungs-Dispensationen, könnten Esoteriker-Eltern fordern, ihre Kinder von Naturwissenschaftslektionen zu dispensieren – mit dem Argument der Gleichbehandlung.
*Ort der Redaktion bekannt