Schafft sich die Religion in der Schweiz selbst ab?
Hier ein Missbrauchsskandal, dort Prügel-Vorwürfe: Christliche Kirchen sorgen derzeit für Negativschlagzeilen. Das bedeutet der Imageschaden.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine Studie deckte kürzlich Hunderte Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche auf.
- Nur wenige Tage später wurden Prügel-Vorwürfe gegen Freikirchler Jürg Läderach publik.
- Es ist möglich, dass einige Menschen deshalb der Religion endgültig den Rücken kehren.
Die Negativschlagzeilen über christliche Kirchen in der Schweiz brechen derzeit nicht ab: Eine Studie der Universität Zürich deckt mehr als 1000 Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche auf.
Und nur wenige Tage später gehen in einer Doku mehrere mutmassliche Opfer von Ex-Chocolatier Jürg Läderach an die Öffentlichkeit: Sie werfen ihm vor, in seiner freikirchlichen Schule Prügelstrafen verhängt und auch selbst ausgeführt zu haben.
Nach der Missbrauchsstudie liess eine Austrittswelle nicht lange auf sich warten: Viele Menschen wandten sich von der katholischen Kirche ab. Auch aus der reformierten Kirche, die mit dem Skandal nichts zu tun hat, traten einige aus. Schafft sich Religion in der Schweiz allmählich selbst ab?
«Da hilft Kommunikation oder Imagearbeit nichts mehr»
«Das Image von Religion kann unter dem schlechten Image der zwei Kirchen leiden», erklärt Markenexperte Stefan Vogler gegenüber Nau.ch. Die Öffentlichkeit könne aber auch differenzieren – nicht alles, was religiös ist, gehört in den gleichen Topf.
«Schon länger und zurzeit vermutlich wieder heftig steht vor allem die katholische Kirche im Kreuzfeuer. Da hilft Kommunikation oder Imagearbeit nichts mehr. Jetzt müssen Taten folgen», so Vogler.
Ob Religion nach den beiden Skandalen der letzten Zeit grundsätzlich an Wichtigkeit verliere, könne er nicht beurteilen. Er verweist aber auf die vielen Kirchen-Austritte, die es zuletzt gab.
Anteil Nicht-Gläubiger ist gestiegen
Für Soziologe Marko Kovic ist es «durchaus denkbar», dass die Skandale einige Menschen dazu bringen, ihrer Religion den Rücken zu kehren. Das seien dann aber Menschen, die davon schon etwas distanziert seien.
Klar ist: «Der Anteil nicht-gläubiger Menschen ist in den letzten rund 50 Jahren auf über 30 Prozent gestiegen.» Gleichzeitig sei der Anteil an Menschen römisch-katholischen und evangelisch-reformierten Glaubens stark gesunken.
«Dieser Trend hat grundsätzlich wenig mit Kirchenskandalen zu tun. Zum einen handelt es sich um einen langfristigen Prozess der Säkularisierung», so Kovic. «Zum anderen sind heute mehr Menschen in einem breiten Sinn spirituell. Sie glauben an etwas Höheres, ohne formal einer Kirche anzugehören.»
Menschen sind heute lieber «spirituell» statt «religiös»
Das beobachtet auch Georg Otto Schmid von der Religionsinformationsstelle Relinfo. «Klar ist, dass die Bindung an religiöse Organisationen geringer wird», sagt er zu Nau.ch.
Denn das Image des Begriffs «Religion» sei schlecht – «fast niemand nennt sich selbst religiös.» Alternativbegriffe seien «Glaube» oder «Spiritualität».
Aber: «Ob die Religiosität in der Schweiz insgesamt abnimmt, ist unter Forschenden umstritten. Nach meiner Beobachtung hängt die Beantwortung dieser Frage von der Entscheidung ab, was als Religion gewertet wird und was nicht.»