Schon Kindergärtler müssen wegen Druck zum Psychologen

Janis Meier
Janis Meier

Fribourg,

Bereits Tage nach ihrem vierten Geburtstag werden einige Kinder in der Schweiz eingeschult. Der frühe Gang in den Kindergarten kann Folgen für sie haben.

Junge Kinder Schule
In der Schule müssen die Kinder brav sitzen. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • In vielen Kantonen werden die Kinder bereits ab ihrem vierten Geburtstag eingeschult.
  • Auf den individuellen Entwicklungsstand wird dabei wenig Rücksicht genommen.
  • Bildungsexpertin Margrit Stamm warnt vor der frühen Einschulung.

Da haben Eltern wenig Entscheidungsraum: Wenn das Kind bis zum 31. Juli vier Jahre alt ist, ruft der Kindergarten.

So ist es zumindest in vielen Schweizer Kantonen der Fall. Konkret überall dort, wo die Kantone dem sogenannten HarmoS-Konkordat beigetreten sind.

Dieses war ein Versuch der Schweizer Politik, die Einschulung und weitere Aspekte der Ausbildung zu harmonisieren. Denn Bildung ist eigentlich Kantonssache. Funktioniert hat das so lala.

Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg, erklärt gegenüber Nau.ch: «Es gibt gar keine Harmonisierung.» Viele Kantone würden es anders machen, als es das Konkordat wollte.

Denn viele sind HarmoS gar nicht erst beigetreten: In den Kantonen Luzern, Graubünden, Thurgau, Nidwalden, Uri, Schwyz und Appenzell Ausserhoden wurde das Konkordat abgelehnt. Weitere Kantone haben den Beitritt vorläufig verweigert oder sistiert. Sie regeln bis heute das Alter der Einschulung selbst.

Wann bist du in den Kindergarten gekommen?

In Luzern etwa kommen erst Kinder, die vor dem 31. Juli das fünfte Lebensjahr vollenden, in den Kindergarten. Also exakt ein Jahr später als vom HarmoS-Konkordat vorgesehen.

In Kantonen wie Bern und Zürich gehts bereits mit vier Jahren in den Kindsgi. Und wenn die Schulpflicht ruft, muss das Kind eine gewisse Entwicklungsstufe bereits erreicht haben: «Windeln benötigt es keine mehr», setzt etwa der Kanton Zürich voraus. Doch nicht jedes Kindsgi-Kind bringt diese Voraussetzung mit.

Die Schuhe selbst anziehen, Znüni auspacken, Malen, Nasenputzen und Reissverschlüsse schliessen muss der Sprössling auch schon beherrschen.

Mehr Druck durch das Bildungssystem

«Das Kind muss dieses und jenes bereits bei der Einschulung beherrschen», kritisiert Stamm. Der Druck durch das Bildungssystem habe zugenommen. Aber: «Gewisse Kinder sind wegen der frühen Einschulung noch nicht so weit», sagt die Bildungsexpertin.

Das setze die Eltern unter Druck. «Sie denken sich: Wenn das Kind nicht den vorgeschriebenen Entwicklungsstand vorweist, ist mit ihm etwas falsch», so Stamm.

In der öffentlichen Debatte herrsche vielfach die Meinung, dass der Druck auf die Kinder von ehrgeizigen Eltern komme. Doch dieser Ehrgeiz hat seinen Grund, wie die Forscherin sagt: «Der Druck auf die Eltern kommt vom Bildungssystem und der frühen Einschulung.»

Das hat Auswirkungen auf die Sprösslinge. «Es gibt nicht wenige Kinder, die mit psychologischen und anderen Diagnosen und Behandlungen eingedeckt werden.» Alles in allem sei HarmoS ein typischer «Schreibtischentscheid» gewesen.

Eltern wollen ihre Kinder später einschulen

In den letzten Jahren haben immer mehr Eltern verlangt, ihre Kinder später einzuschulen. Laut Stamm sei die Quote von zwei auf etwa zwanzig Prozent gestiegen – «da stimmt etwas nicht».

Margrit Stamm
Margrit Stamm ist Erziehungswissenschaftlerin und emeritierte Professorin an der Universität Fribourg. - zVg

Immerhin: Der Kanton Bern betreibe ein Vorzeigesystem, lobt die Expertin. Die Eltern können bei der Kindergarten-Anmeldung vermerken, dass sie ihr Kind später oder in einem reduzierten Pensum einschulen wollen.

HarmoS-Kantone wollen nichts ändern

In den Kantonen ist von Stamms Kritik jedoch wenig zu spüren, wie eine Umfrage von Nau.ch zeigt. Die HarmoS-Kantone Basel-Stadt, Zürich, St. Gallen und Bern berichten von grösstenteils positiven Erfahrungen mit der frühen Einschulung.

Martin Peter, stellvertretender Leiter der Zürcher Bildungsdirektion, betont: «Ob ein Kind die Voraussetzungen mitbringt, dem Unterricht im Kindergarten zu folgen, hängt nur bedingt vom Alter ab.»

Das St. Galler Bildungsdepartement findet nicht, dass es eine Veränderung des Stichtages brauche: «Die Setzung des Schulbeginns orientiert sich nicht am Entwicklungsstand der einzuschulenden Kinder, sondern ist eine normative Setzung des Staates.»

«Politisch gewollt», bezeichnet die Berner Bildungsdirektion die Vorverlegung des Stichtages. Sprecherin Aline Leitner betont: «Sie geschah mit Blick auf die übrigen Länder Europas und mit Blick auf die Forderung aus der Wirtschaft, dass die Jugendlichen beim Schulaustritt jünger sein sollten.»

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Kommentare

User #1722 (nicht angemeldet)

hoffentlich bezahlt das auch die krankenkasse

User #4195 (nicht angemeldet)

Wer noch nie bei einem Psycholgen war, gilt heute schon fast als nicht normal.

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