Städterin rausgeekelt: Sind Bergdörfer anfälliger für Filz?
Eine Städterin ist überzeugt, dass in Adelboden BE nicht alles mit rechten Dingen zu- und hergeht. Sie spricht von Filz. Zufall?

Das Wichtigste in Kürze
- Eine Städterin sagt, sie sei aus Adelboden BE rausgeekelt worden. Sie spricht von Filz.
- Tatsächlich gibt es Faktoren, die Vetterliwirtschaft in kleinen Dörfern begünstigen.
- Doch auch in der Stadt ist das Risiko vorhanden – dort ist es einfach weniger sichtbar.
Eigentlich meint eine Städterin, ihren Traumwohnort gefunden zu haben: Bei einer Skitour verliebt sie sich in das Bergdorf Adelboden BE.
Doch die Idylle mitten in der Berglandschaft trügt: Kurz nach dem Einzug entdeckt sie zahlreiche Mängel in ihrer 3,5-Zimmer-Wohnung. Der Vermieter reagiert nur zögerlich auf ihre Bitten um Reparatur.
Da die Probleme anhalten, wendet sich die 66-Jährige an die Schlichtungsbehörde Berner Oberland. Diese ordnet an, dass die Mängel behoben werden müssen. Doch statt Verbesserungen erhält sie die Kündigung.
Die Frau beschleicht das Gefühl, dass Zugezogene in Adelboden BE nicht immer willkommen sind. «Es gibt Leute, die in Adelboden das Sagen haben. Sie sorgen dafür, dass Auswärtige wieder gehen müssen, wenn sie sich nicht alles gefallen lassen.»
«Abhängigkeiten und Machtmissbrauch»
Kurz: Die Städterin wirft dem Bergdorf Filz, also Vetterliwirtschaft, vor.
Zufall – oder sind kleine Bergdörfer tatsächlich anfälliger für Korruption und Vetterliwirtschaft?
«Kleine Gemeinden haben lokal weniger Auswahl bei Geschäftspartnern», erklärt Wojtek Przepiorka, Soziologe an der Uni Bern. Vielleicht gebe es nur eine Schreinerin oder einen Versicherungsberater im ganzen Bergdorf.
Trotzdem müssten Holzarbeiten erledigt und Versicherungen abgeschlossen werden. Jemanden von weither kommen zu lassen, sei teurer.

«Vetternwirtschaft ist dann zum Teil ein Nebenprodukt dieser Notwendigkeit», erklärt Przepiorka. Mit Vetternwirtschaft gemeint ist die Bevorzugung von Freunden und Verwandten, etwa beim Aufträgevergeben.
Was er dabei kritisch sieht: Die enge Verflechtung könne zu «Abhängigkeiten und Machtmissbrauch» führen, weil offene Geschäftsrechnungen auf «vielfältige Weise» beglichen werden können.
«Persönliche Nähe» in Dörfern kann Vetterliwirtschaft begünstigen
Roméa Alonso, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International Schweiz, sagt dazu: In ländlichen Gebieten könnten enge soziale Bindungen dazu führen, dass informelle Netzwerke und Vetternwirtschaft leichter entstehen. Und auch weniger hinterfragt würden.
«Die persönliche Nähe zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern kann die Entstehung solcher Strukturen begünstigen», so Alonso.
In urbanen Räumen würden hingegen häufiger komplexere Verwaltungsstrukturen und eine höhere Anonymität vorherrschen. Dies könne dazu führen, dass Korruption in der Stadt weniger sichtbar sei, aber nicht unbedingt seltener vorkomme.
Man will es sich nicht mit den «eigenen» Leuten verscherzen
Dass die Städterin nicht mit besonders offenen Armen in Adelboden empfangen wurde, überrascht Przepiorka nicht.
Denn: «In kleineren Gemeinden kennt man sich, lebt seit Generationen zusammen und begegnet sich oft.» Im Gegensatz dazu sei das soziale Geflecht in Städten viel mehr von Begegnungen mit Fremden geprägt.

Diese engen sozialen Netzwerke in Bergdörfern können die Integration von Zugezogenen erschweren, erklärt er. Schliesslich würde die Integration eines neuen Mitglieds in das soziale Netzwerk die Abschwächung bestehender Beziehungen erfordern.
«Insbesondere in kleineren Gemeinden ist das kritisch, weil man es sich mit den ‹eigenen› Leuten nicht verscherzen will.»
Je andersartiger, desto schwieriger ist die Integration
Soziologin Kristina S. Weissmüller, früher Uni Bern und heute an der Universität Amsterdam, ergänzt: «Generell haben es Personen, die neu in ein soziales Netzwerk hinzustossen, schwerer, sich zu integrieren.»
Umso schwieriger werde es, je «andersartiger» sie von den anderen Mitgliedern des Netzwerks empfunden werden. «Das Phänomen heisst Othering», erklärt Weissmüller.
Ein Beispiel liefert Kriminologe Dirk Baier von der ZHAW. Es mache einen Unterschied, wie gross die soziale Distanz sei: «So hat ein Schweizer aus einer Grossstadt sicherlich weniger mit Ausgrenzung auf dem Land zu kämpfen als ein Ausländer.»
Allerdings gilt auch: «Persönlicher Kontakt baut vorhandene Vorurteile schnell ab», sagt Baier.
Egal ob Stadt oder Land: Menschen mit schlechten Absichten gibt es überall
Zusammengefasst gibt es also tatsächlich Faktoren, die Filz und Vetterliwirtschaft in Bergdörfern begünstigen.
Trotzdem: Przepiorka gibt zu bedenken, dass es sich bei dem Erlebnis der Städterin um einen «unglücklichen Einzelfall» handeln könnte.
«Allein aus diesem Fall lassen sich noch keine Schlüsse auf das typische Verhalten von Bergdorfbewohnern ableiten. Schwierige Vermieter und Mieter gibt es schliesslich auch in der Stadt.»
Auch Baier betont, dass es letztlich immer auf die Motive ankomme: «Menschen mit schlechten Absichten gibt es im ländlichen wie im städtischen Raum.»