Wolf: Darum frass er früher Menschen – und jetzt nicht mehr
Der Wolf erscheint in europäischen Märchen als Bestie. Kein Wunder: In Europa wurden früher Tausende Menschen getötet – heute nicht mehr. Das steckt dahinter.
Das Wichtigste in Kürze
- Immer wieder wird der Wolf in der Schweiz auch in dicht besiedelten Gebieten gesehen.
- Trotzdem gibt es in Mittel- und Westeuropa praktisch keine Wolfsangriffe auf Menschen.
- Interessant: Das war früher anders. Alleine in Frankreich starben 9000 Menschen.
- Die Gründe: Tollwut und Hunger – beides fällt in der Schweiz heute weg.
Der Wolf reisst in der Schweiz immer wieder Nutztiere – kürzlich fielen ihm in Flums SG zwölf Schafe zum Opfer. Innerhalb von wenigen Tagen tötete ein Wolf letzte Woche auch in Boltigen BE fünf Schafe.
Die Raubtiere sind immer weiter verbreitet, selbst in Schweizer Wohngebieten werden sie ab und an gesichtet. Inzwischen gibt es nur noch einen einzigen Kanton, indem keine Wölfe herumstreifen.
Kurz: Der Wolf tötet, ist auch in dicht besiedelten Gebieten unterwegs – und kommt dem Menschen immer wieder ganz nahe. Eine Gefahr nicht nur für Haus- und Nutztiere, sondern auch für uns Menschen?
Wolf frass früher Tausende Menschen in Europa
Zuerst zu den Zahlen: Obwohl sich der Wolf immer weiter ausbreitet, gab es in Mittel- und Westeuropa zwischen 2002 und 2020 praktisch keine Angriffe. Das zeigen Daten eines norwegischen Forschungsinstituts.
Und doch sind Erzählungen vom Wolf als Kinderfresser mehr als nur Märchen. Erstens sehen die Zahlen in anderen Teilen der Welt anders aus: Weltweit wurden in dem Zeitraum 491 Menschen von Wölfen attackiert, 26 starben.
Zweitens gab es in Europa früher Tausende Wolfs-Tote – bei deutlich kleinerer Bevölkerungsdichte. In einer Studie zeigte Historiker Jean-Marc Moriceau, dass zwischen 1400 und 1900 allein in Frankreich rund 9000 Menschen getötet wurden.
Eine besonders bekannte Geschichte ist die der «Bestie» von Gévaudan, einer südfranzösischen Region. Dort wütete ein Raubtier – Historiker gehen von einem oder mehreren Wölfen aus – in den 1760er-Jahren.
Es tötete Dutzende Menschen und hatte enorme Kraft. Einige seiner Opfer wurden enthauptet. Zudem griff es nicht nur Kinder, sondern auch viele Erwachsene an.
Historiker: Wolf lernte, die Menschen zu meiden
Ist der Wolf also doch gefährlich? Und was müsste passieren, damit er in Europa wieder Menschen frisst?
Mit der «Bestie» von Gévaudan beschäftigte sich auch Jay M. Smith, Historiker an der University of North Carolina.
Gegenüber Nau.ch verweist er auf die radikalen Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert: Die Lebensräume grosser Raubtiere wurden praktisch ausgelöscht, die Wolfspopulationen gingen stark zurück.
Zudem bestritten die Menschen einen anderen Lebensunterhalt. Sie trugen mehr Schusswaffen und tauschten sich regelmässiger untereinander aus. Auch nahm die Bevölkerungsdichte zu.
«All diese Veränderungen verringerten die Anfälligkeit der Menschen für Wölfe erheblich. Und die Wölfe mussten sich zwangsläufig anpassen», erklärt Smith. So hätten die Wölfe mit der Zeit gelernt, dass sie Menschen und deren Siedlungen besser meiden.
Damit der Wolf wieder gefährlich würde, müssten diese Veränderungen rückgängig gemacht werden. Darum gibt der Historiker Entwarnung: «Die Einwohner von Frankreich und der Schweiz sollten wegen der von Wölfen ausgehenden Gefahren nicht zu viel Schlaf verlieren.»
Tollwut macht Wolf gefährlich für Menschen
Wolfsschützer David Gerke von der Gruppe Pro Wolf spricht einen weiteren entscheidenden Punkt an. Er bricht die auseinanderklaffenden Angriffszahlen vor allem auf einen Unterschied herunter: «Hauptursache war und ist die Tollwut», betont er bei Nau.ch.
Tatsächlich waren 78 Prozent der weltweiten Attacken zwischen 2002 und 2020 auf Tollwut zurückzuführen. «Wölfe reagieren, wie andere Hundeartige, bei einer Tollwut-Infektion mit gesteigerter Aggression.»
Der Wolfsfreund beschwichtigt aber. «Die Tollwut ist in West- und Mitteleuropa seit Jahrzehnten ausgerottet.» Deshalb gebe es auch keine Angriffe auf Menschen mehr.
Wolf hatte früher Hunger
Er nennt noch einen zweiten Grund für die vielen Wolfsangriffe früher: «Der eklatante Mangel an natürlicher Beute zur damaligen Zeit.» Das sei heute kein Problem mehr – denn die Wildbestände seien auf dem höchsten Stand seit mindestens dem Mittelalter.
Von einem Szenario, in dem wir Kinder nicht mehr allein auf den Schulweg schicken können, sind wir also weit entfernt. Damit wir wieder Angst vor dem Wolf haben müssten, müssten vor allem zwei Dinge passieren: «Eine Rückkehr der Tollwut wäre problematisch. Weiter muss gewährleistet sein, dass die Wildbestände intakt bleiben», sagt Gerke.