Zürich: Eine Nonne im Einsatz für die Menschlichkeit
Inmitten des Weihnachtstrubels gibt es auch in Zürich eine Welt, die oft übersehen wird. Hier ist Schwester Ariane, die sich um die Vergessenen kümmert.
Das Wichtigste in Kürze
- Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf widmen ihr Leben den Bedürftigen.
- Sie verteilen Gratis-Mahlzeiten an Menschen mit wenig Geld.
Die Geschäfte in der Zürcher Bahnhofstrasse sind geschmückt, Menschen hasten durch die Strassen, um die letzten Geschenke zu besorgen. Doch während die meisten Züricher:innen die Weihnachtszeit im Kreis ihrer Liebsten feiern, sind andere froh, an eine warme Mahlzeit zu kommen.
Zwei, die sich um diese Menschen kümmern, sind Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf. Sie widmen ihr Leben den Bedürftigen. Seit sechs Jahren verteilen sie täglich mit ihren Mitarbeiter:innen und vielen Freiwilligen Gratis-Mahlzeiten an Menschen mit wenig Geld. Neben der Mensa unter freiem Himmel hinter dem 25-Hours-Hotel betreiben sie auch das Lokal Primero unweit entfernt von der Langstrasse, in dem die Menschen nicht nur Essen, sondern auch Geborgenheit finden.
Zerrüttete Familiengeschichten und ein Leben in Armut
Das Primero ist an diesem Freitagnachmittag gut besucht. An einem Tisch sitzt eine Gruppe – zwei Frauen, zwei Männer – und spielt Karten, in einer Sofaecke hat es sich ein Besucher gemütlich gemacht und döst vor sich hin. Viele Menschen, die hier ein und aus gehen, haben schon einiges durchgemacht in ihrem Leben. Sie sind in zerrütteten Familien aufgewachsen, haben eine Flucht hinter sich oder sind aus anderen Gründen durch alle Raster dieser Gesellschaft gefallen. Mit ihrer Arbeit versuchen Schwester Ariane und ihr Team, diesen Menschen mit Respekt zu einem selbstbestimmteren Leben zu verhelfen. «Den Bedürftigen auf Augenhöhe zu begegnen, aktiv auf sie zuzugehen, ist eine Form der Wertschätzung, die viele von ihnen sonst nie erfahren», so Ariane.
Ein Mann, etwa Mitte dreissig, betritt das Lokal. Die Schwester begrüsst ihn herzlich und erkundigt sich: «Wie geht es dir? Wie ist die Operation verlaufen?» Dem Mann wurde vor einigen Wochen ein Tumor entfernt. In gebrochenem Deutsch erklärt er, dass es ihm gut gehe und der Tumor gutartig gewesen sei. Er streckt ihr sein Handy mit dem ärztlichen Befund entgegen, den sie eingehend studiert und ihm in einfacher Sprache übersetzt. Sie werde weiter für ihn beten, sagt sie und nimmt den Mann lange in den Arm, bevor dieser sich zu einer im hinteren Teil des Raumes sitzenden Gruppe an den Tisch setzt.
Immer mehr Bedürftige
Ein Blick auf die Uhr erinnert Schwester Ariane daran, dass es Zeit ist, die Lebensmittel abzuholen und die Stationen für die Essensausgabe aufzubauen. Es regnet in Strömen, doch das macht der Gruppe aus rund zehn Freiwilligen nichts aus. «Die Menschen auf der Strasse sind dem Regen auch ausgesetzt», sagt die Schwester auf dem Weg zur Essensausgabe. Das vergesse man schnell.
Kurz nach Ankunft an der Essensausgabe kommt ein älterer Mann mit dichtem Bart um die Ecke spaziert. Er stellt sich vor und erzählt, dass er jeden Tag die Mensa putze. Der Mann, wir nennen ihn Peter, greift nach einer bunten Schnur und sperrt einen Gang ab, in den sich die Menschen später einreihen werden. Peter wohnt auf der Strasse. «Nicht mehr lange», ruft ihm Ariane zu. «Wir finden für dich schon noch eine Wohnung.» Ein Dach habe er schon, entgegnet Peter und lacht. «Mein Dach ist die Brücke, jetzt fehlen nur noch die Wände.»
Das Angebot findet das ganze Jahr über täglich statt. Neben der warmen Mahlzeit dient es auch der Beziehungs- und Vertrauensbildung. Für viele Menschen, die hier ihre Mahlzeit abholen, sind Schwester Ariane, Pfarrer Karl Wolf und ihre Mitarbeitenden zu wichtigen Bezugspersonen geworden. 2001 gründete Schwester Ariane im Alter von 27 Jahren den Verein Incontro, ein Projekt, mit dem sie sich zunächst für Kinder und Jugendliche in Not einsetzte. Herzstück des Vereins sind die Mensa und das Begegnungszentrum Primero. Dort werden Deutschkurse angeboten, es gibt eine Schreibstube, medizinische Beratungsstunden und Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Alles wird durch Spenden finanziert. Ein Pool mit rund eintausend freiwilligen Helfer:innen macht dieses Angebot überhaupt erst möglich.
Eine Viertelstunde bevor es losgeht, ist die Schlange der Wartenden bereits an die hundert Meter lang. Es regnet noch immer ununterbrochen, zudem zieht ein eisiger Wind durch die Strasse. Dennoch ist die Stimmung entspannt. Geduldig warten alle, bis sie an der Reihe sind.
Schwester Ariane verteilt frische Lebensmittel, Obst, Gemüse und Salat – unverkaufte Ware aus dem Globus, Lebensmittel, die sonst im Müll gelandet wären. Während sie die Tüten füllt, erkundigt sie sich bei den Menschen, kommt mit ihnen ins Gespräch. Neben den frischen Lebensmitteln bekommen alle eine warme Mahlzeit. Gekocht wird gleich nebenan im 25-Hours-Hotel und in anderen Restaurants, die sich für Menschen in Armut einsetzen. Je nachdem, wie gross der Andrang ist, geben die Helfer:innen mehr als eine Portion heraus. Doch heute könnte es knapp werden.
«Wie viel Mahlzeiten haben wir?», ruft die Schwester einer der Helferinnen zu – «250!» Beunruhigt blickt die Schwester zu den Wartenden. Die Zahl der Menschen, die ihr Angebot nutzen, wachse, erzählt sie. «Früher sind wir mit 200 warmen Mahlzeiten immer gut durchgekommen.» Doch die Pandemie, die allgemeine Teuerung und jetzt auch noch die Kriege führten dazu, dass immer mehr Menschen in die Armut rutschten.
Armut bleibt unsichtbar
Im Kanton Zürich wurden im Jahr 2022 rund 43’686 Personen durch die Sozialhilfe unterstützt. Das sind 2,8 Prozent der hiesigen Bevölkerung. Anspruch auf Sozialhilfe hätten noch viel mehr.
Eine Studie der Berner Fachhochschule zeigt, dass in Schweizer Städten etwa jede:r siebte:r Einwohner:in, die:der Anspruch auf Sozialhilfe hätte, keine beantragt – aus Scham, aus Stolz oder bei Ausländer:innen auch aus Angst vor Konsequenzen für den Aufenthaltsstatus. Auf dem Land ist diese Zahl noch deutlich höher.
Das Christkind der Langstrasse
Gegen 20 Uhr ist alles Essen verteilt. Inzwischen ist auch Pfarrer Karl Wolf eingetroffen, der sich an die Arbeit macht und die Foodboxen reinigt. Ihm zur Hilfe steht Lukas, ein langjähriger Freund, der auf der Strasse lebt und in engem Austausch steht mit Ariane, Karl Wolf und dem Verein. Später, zurück im Lager, bereiten die Freiwilligen mit Karl und Schwester Ariane die Wagen für den nächsten Tag vor, in denen Lebensmittel und Hyienenartikel transportiert werden.
Für die meisten Helfer:innen endet der Einsatz hier. Doch für Ariane, Karl und ein paar wenige Helfer:innen geht die Tour an der Langstrasse weiter. Sie möchten die vorbereiteten Weihnachtspäckchen an die Frauen und Männer verteilen, die im Rotlichtmilieu arbeiten. Bewusst sprechen sie stets von den «Menschen im Milieu», nicht von Sexarbeiter:innen. Denn dies würde implizieren, dass die Frauen sich freiwillig für diesen Beruf entschieden haben, so die Schwester. Zwei Autos sind beladen mit prall gefüllten Tüten, in denen Lebensmittel, Hygieneartikel und kleine Geschenke verpackt sind.
Die Tour beginnt in einer der vielen Kontaktbars mit angrenzendem Wohnhaus, in dem auf fünf Stockwerken verteilt knapp 90 Frauen leben – die meisten kommen aus Westafrika und Südamerika und bleiben nicht länger als wenige Monate. Dennoch sind die Schwester und der Pfarrer Karl auch hier zwei bekannte Gesichter. Die Frauen strecken die Köpfe aus ihren Zimmern und begrüssen sie herzlich. Eine Frau mit dunklen Locken und einem energischen Auftreten übernimmt den Lead und sorgt dafür, dass die Geschenke fair verteilt werden. Sie managed, schickt die Frauen zurück in ihre Zimmer, wenn sie sich beschweren oder eine zweite Tüte wollen. Schwester Ariane und Pfarrer Karl halten sich dabei weitgehend zurück. Sie wirken ruhig und lassen sich von der Hektik im Haus nicht beeindrucken.
Während die Helfer:innen die Geschenke verteilen, kommt die Schwester mit den Frauen ins Gespräch. Eine hat die Grippe und fragt nach einem Medikament. Schwester Ariane kümmert sich darum. Armut und Krankheit hängen stark zusammen, sagt Ariane. «Wir haben eine Entscheidung getroffen: Wir stehen auf der Seite der Frauen und der Menschenwürde und unser Handeln zielt darauf, den Frauen Perspektiven zu eröffnen», ergänzt Karl. Bis alle Frauen im Haus mit Geschenken eingedeckt sind, vergeht fast eine Stunde.
Schwester Ariane und ihre Helfer:innen sind eine Brücke zwischen der festlichen Bahnhofstrasse und der düsteren Realität der Langstrasse. Sie bringen nicht nur Essen, sondern auch Hoffnung und Menschlichkeit zu den Menschen am Rand der Gesellschaft. Ihre Arbeit ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die steigende Zahl der Bedürftigen, bedingt durch Kriege, wirtschaftliche Unsicherheit und die Auswirkungen von Pandemien, macht ihre Arbeit notwendiger denn je. Das Primero bietet jenen einen sicheren Hafen, die sonst vergessen werden. Über Weihnachten wird das Lokal durchgehend geöffnet sein, sodass auch die Menschen, die keine Familie oder kein Dach über dem Kopf haben, über die Festtage nicht allein sein müssen.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autorin Noëmi Laux ist Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.