Zürich: Filippo Leutenegger, haben wir eine Bildungskrise?
Zürcher Schulen stehen zunehmend in der Kritik. Zu Unrecht, findet Stadtrat und Schulvorsteher Filippo Leutenegger.
Das Wichtigste in Kürze
- Lehrerinnen und Lehrer haben kürzlich in Zürich für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert.
- Der Zürcher Stadtrat und Schulvorsteher Filippo Leutenegger im Interview.
Tsüri.ch: Anfang Juni haben in Zürich mehrere Hundert Lehrpersonen für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert – zum ersten Mal nach 20 Jahren. Befinden wir uns in einer Bildungskrise?
Filippo Leutenegger: Nein. Wir haben noch nie so viel in die Bildung investiert wie in den letzten zehn Jahren. In diesem Zeitraum haben die Investitionen pro Schulkind um 14 Prozent zugenommen. Das Budget für die Stadtzürcher Volksschule beträgt heute rund 1,2 Milliarden Franken. Das ist ein Drittel des gesamten Steueraufkommens.
Tsüri.ch: Aber Geld allein löst doch keine Probleme.
Leutenegger: Wir hatten im Bildungsbereich das grösste Personal- und Kostenwachstum. Der an der Demonstration erhobene Vorwurf, dass im Bildungsbereich gespart würde, ist falsch.
Tsüri.ch: Es gehen nicht nur Lehrerinnen und Lehrer auf die Strassen, ganz generell hat man das Gefühl, dass Schulthemen die Stadtbevölkerung umtreiben. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Leutenegger: Zum einen haben der Mangel an Schulraum sowie Schulpersonal die Bevölkerung sensibilisiert. Zum anderen ist die Schule aufgrund der vielen Reformen der letzten Jahre ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.
Tsüri.ch: Diese Öffentlichkeit kritisiert nun die fehlende Unterstützung aus der Politik, namentlich von Ihnen und der kantonalen Bildungsdirektorin Silvia Steiner. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Leutenegger: Diese Kritik zielt ins Leere: Wie und wofür das Geld eingesetzt wird, entscheidet die Zürcher Schulpflege (ZSP). Fünf der sieben Mitglieder gehören der SP an. Zudem hat das Schulamt, dort, wo wir nicht an die kantonalen Vorgaben gebunden sind, Erleichterungen für das Schulpersonal geschaffen.
Tsüri.ch: Haben Sie Beispiele?
Leutenegger: In alltäglichen Fragen wie beispielsweise den Spesenabrechnungen konnten wir den administrativen Aufwand – nicht zuletzt durch Digitalisierung – für die Schulen spürbar reduzieren. Daneben wurden die Sekretariate aufgestockt. Dies schafft mehr Ressourcen für die Unterstützung der neuen, anders qualifizierten Lehrpersonen. Der Einsatz von Betreuungsassistenzen in den Klassen führt ebenfalls zu einer Entlastung des Lehrpersonals. Zudem prüft die Schulpflege rollend, welche laufenden Projekte reduziert, sistiert oder verschoben werden können.
Tsüri.ch: Diese Anpassungen scheinen nicht ausreichend, um den Mangel an Schulpersonal zu decken. Weil auch für das kommende Schuljahr 2024/25 Lehrerinnen und Lehrer fehlen, hat der Kanton entschieden, dass sogenannte Poldis – Personen ohne Lehrdiplom – auch weiterhin unterrichten dürfen.
Leutenegger: Die Zunahme von Schulkindern sowie der Personalmangel stellen auch die Stadt vor grosse Herausforderungen. Deshalb bin ich froh, dass die kantonale Bildungsdirektion diese Entscheidung getroffen hat. Viele Poldis sind motiviert. Es wäre jedoch wichtig, dass wir diese Personen im Lehrberuf behalten können und sie entsprechend eine Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule absolvieren würden.
Tsüri.ch: Wie wollen Sie das schaffen? Dass es überhaupt Poldis gibt, entstand ja genau aus dieser Not heraus.
Leutenegger: Wir sind an die Vorgaben des Kantons gebunden. Ziel ist es, dass möglichst viele geeignete Poldis im Schulbetrieb gehalten werden. Wenn die kantonalen Vorgaben stimmen und der Quereinstieg attraktiv bleibt, steigen die Chancen, dass Poldis weiter im Lehrberuf verbleiben.
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Hinweis: Dieses Interview von Isabel Brun ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Brun ist Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.