Rahmenabkommen gleich Heim-ins-Reich-Politik Brüssels?
Das Rahmenabkommen gliedert die Schweiz der EU ein und gefährdet langfristig den Föderalismus. Ein Gastbeitrag von Radu Golban.
Die Schweiz, als de facto EU-Mitglied, bekommt mit dem Präzisierungswunsch des Bundesrats zum Rahmenabkommen die Ungeduld der EU-Kommission zu spüren.
Nachdem der scheidenden EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker sich sichtlich verärgert über die häufigen (Falsch-?)Meldungen zu seinem exzessiven Trinkgenuss gezeigt hat, ist fraglich, ob seine Gereiztheit gegenüber der Eidgenossenschaft sein Schnapsdrosselettiket bestätigt oder nicht. Zumal andere Schluckspechte eher zur Gelassenheit neigen.
Die kontroverse Debatte zum Rahmenabkommen hierzulande ist allzu verständlich, wenn man bedenkt, dass rein inhaltlich nicht zusammenhängende Regelungsbereiche nur dank einer politisch motivierten Zwangsjacke zusammengehalten werden.
Daher verwundert es nicht, wenn «Marktzugang sichern» als Argument der Befürworter im gleichen Atemzug fällt wie «fremde Richter» als Gegenargument der Skeptiker. Immerhin haben beide Recht. Doch wie lässt sich dieser Eintopf aus verschiedenen Abkommen erklären?
Freihandelsabkommen gegen Schweizer Souveränität
Das Herzstück des neuen Mantelvertrags bildet das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft von 1972. Dadurch entstand eine zollbefreite, Marktzugang sichernde Freihandelszone für industrielle Erzeugnisse zwischen den Vertragsparteien.
Solche Abkommen gibt es seit Hunderten von Jahren und sind weder eine Erfindung der EU noch der Schweiz.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Rahmenabkommen umgibt in der Schweiz ein stark polarisierende Debatte.
- Radu Golban kritisiert den Vertrag als Übernahme der «heim ins Reich»-Politik Brüssels.
Interessant ist die Frage, wie es zur Erosion der Schweizerischen Souveränität gekommen ist, dass dieses Abkommen, welches nahezu dreissig Jahre bestand und das Fundament der bilateralen Beziehungen darstellt, plötzlich mit der Unterzeichnung der Bilateralen Verträge 1999 an andere Verträge geknüpft wurde?
Insbesondere das Personenfreizügigkeitsabkommen gilt hierbei als Paradebeispiel. An der Verhandlungstaktik Brüssels, den Durchgriff auf die Schweiz überdies auch in allen Bereichen von Luft- und Landverkehr, über Forschung, technische Handelshemmnisse bis hin zur Landwirtschaft durch eine Guillotine-Klausel abzusichern, wonach der Wegfall eines Vertrags auch alle anderen Abkommen ausser Kraft setzen würde, wird der Integrationsdruck auf die Schweiz offenbart.
Für die Euroturbos, hüben wie drüben, stellt das Rahmenabkommen den Inbegriff von Formvollendung dar, indem es bei so viel EU-Gleichschaltung einen Beitritt der Schweiz nahezu hinfällig macht.
Erst durch den politischen Einheitsbrei konnte eine auf Debattenkultur gebildete Direktdemokratie völlig zum Erliegen gebracht werden.
Komplexität von EU-Vorlagen verhindern klare Resultate
So verwundert es nicht, dass keiner so genau weiss, wie er bei EU-Vorlagen stimmen soll, kann die Komplexität weder ein klares Ja noch ein eindeutiges Nein hervorbringen.
Die nach dem alles oder nichts gelagerte Verhandlungsstrategie Brüssels war wohl eine Überdosis Sand im schweizerischen Direktdemokratiewesen, was ähnlich einem power cut, die Demoktratielämpchen der Reihe nach ausgelöscht und durch Orientierungslosigkeit ersetzt hat.
Jüngstes Beispiel für diese Art von Abstimmungen war das Referendum zur neuen EU-Waffenrichtlinie. Das Stimmvolk musste die EU-Vorgabe durchwinken, um aufgrund der restlichen Abkommen aus den Bilateralen Verträgen den Freihandel mit der EU nicht aufzugeben.
Bei den bekannten Berliner Sportpalastreden in den Dreissigern fragte man auch nur schlicht «wollt Ihr Europa?», was man mit einem lauten Getöse mit «Ja» bejubeln konnte.
Das wiederkehrende autoritäre Demokratieverständnis aus der EU kann keine Feinabstimmung durch Direktdemokratie erlauben. Daraus resultierend führt die EU-Integration für die Schweiz eher zu einer ständigen Bekenntnisfrage als zu einer pragmatischen Kooperation.
Nüchtern betrachtet, bereitet der Lohnschutz sicherlich Kopfzerbrechen, doch hätte man sich das früher überlegen sollen, weshalb man ein Freihandelsabkommen mit dem Zwang zur Aufnahmen von EU-Bürgern nach den innerhalb der Union geltenden Regeln für Mitgliedsstaaten verknüpft hat.
Niemand käme zum Beispiel auf die Idee, trotz einer gegenüber dem Freihandelsmodell sogar weitreichenderen Zollunion der EU mit der Türkei, diese an eine Personenfreizügigkeit zu knüpfen.
Noch weniger wahrscheinlich wäre es, dass Australien, das eine EU-Börsenäquivalenz nebst Hongkong und den USA besitzt, das Qualifikationspunktesystem für Einwanderer einer Personenfreizügigkeit opfert, nur um die Brüssler Berechtigung zum Aktienhandel gemäss der EU-Finanzrichtlinie Mifid nicht zu verlieren.
Regelrecht bizarr würde es anmuten, wenn man den Vertragspartner eines sonstigen Freihandelsabkommens, ob China, Japan, Chile oder der Türkei, dazu zwingen würde, auch noch ein Forschungsabkommen zur Subventionierung der klammen universitären Kaderschmieden in der EU zu unterzeichnen.
Zwar mag das Bild der Schweiz im Ausland oftmals mit Kuriositäten und Sonderbarkeiten assoziiert werden, doch kommt kein Bild an die Skurrilität dieses Vertragswerks heran.
Es darf auch nicht an Pikanterie fehlen, greift die EU-Freizügigkeit im banalen Falle für Kaminkehrer weiter als die innerschweizerische Freizügigkeit, womit ein EU-Schornsteinfegerkollege weit mehr Rechte hierzulande hat als ein Tessiner in Zürich.
Schweiz verabschiedet sich von eigener Staatlichkeit
So schafft es eine historisch gewachsene Nation, deren innerer Zusammenhalt durch die Gründung des Bundesstaats gerade anderthalb Jahrhunderte zurückliegt und an der eigenen Binnenintegration weiterhin durch eigene komplizierte Freizügigkeitsregeln noch arbeitet, sich von der eigenen Staatlichkeit zu verabschieden.
Offensichtlich stehen sich mit dem neuen Vertragswerk zwei Integrationsmodelle gegenüber. Einerseits das EU-Modell und andererseits der Schweizer Bundestaat selbst, im Hinblick auf die noch nicht vollendete Schaffung eines Einheitsstaats.
Daher ist die Frage berechtigt, welches Modell dem anderen das Wasser abgräbt. Niemand kann heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass die an Tempo immer zügigere EU-Integration das schweizerische Modell überflüssig macht und auf lange Sicht die Eigenständigkeit der Kantone in einem EU-Korsett den Bundesstaat hierzulande ersetzen könnte.
Gerade der als Erfolgsmodell gefeierte Föderalismus und der Seilakt mit der geteilten Souveränität zwischen Bund und Kantonen könnte der Schweiz zum Verhängnis werden.
Vermutlich haben klassische Nationalstaaten mit einer stärker ausgeprägten zentralistischen Struktur die besseren Überlebenschancen in der EU als ein Land, welches sich über die Integration ihrer eigenen Teilstaaten definiert.
Damit zu guten Nachricht: Der Kantönligeist wird definitiv überdauern. Somit könnte er als Rechtssubjekt durch Brüssel womöglich mehr hofiert werden als durch Bern.
Höchst zweifelhaft ist auch die Rolle des künftigen Schiedsgerichts zwischen der Schweiz und der EU. Weil der EuGH die eigentliche letzte Instanz sein wird, kann die Schweiz beim Integrationsmotor Brüssels nicht von einem objektiven Gericht ausgehen.
Der EuGH, bekannt für seine Rechtsentwicklung im Sinne der Vollendung der Europäischen Einheit, ist weit politischer als man denken mag. Demnächst wird er darüber entscheiden, ob das höchste Gericht Rumäniens die Verfassung des Landes brechen darf oder nicht.
Der Klage wurde bereits stattgegeben. Damit hat der EuGH zumindest in Ansätzen dem Gedanken Tür und Tor geöffnet, dass die verfassungsmässige Ordnung der Mitgliedsstaaten bald dem Richterdiktat der EU weichen könnte. Sicherheiten kann die Schweiz für die zunehmende Politisierung des EuGHs keine bekommen.
Doch wohin kann diese Reise führen? Otto von Habsburg, Sohnemann des letzten österreichischen Kaisers, zweiter berühmter Politimmigrant in Bayern nach Adolf Hitler und EU-Politiker, hatte mit seinem EU-Fetisch weit mehr Ecken und Kanten als die achteckige Krone des Heiligen Römischen Reichs (Deutscher Nation), von dem er doch so angetan war.
Wörtlich fabulierte er 1989 in einer an Jean-Claude Junker erinnernden Frische: «Die (Europäische) Gemeinschaft lebt überwiegend vom Erbe des Heiligen Römischen Reichs, wobei der Grossteil der davon lebenden Menschen jedoch nicht weiss, wovon sie leben.»
Wenn ein Mitbegründer der europäischen Nachkriegsintegration aus dem Hause Habsburg solche Ideen formuliert, dann könnte Brendan Simms, Professor für Geschichte an der Universität Cambridge, Recht haben.
In seinem in der New York Times 2013 publizierten Artikel «Die Geister der Vergangenheit Europas» führt der berühmte Historiker aus, dass es «den Cheerleadern der Europäischen Union gefällt zu glauben, dies sei ein völlig neues Phänomen, geboren aus den Schrecken der beiden Weltkriege.»
«Aber in Wirklichkeit hat es starke Ähnlichkeit mit einem Gebilde, von dem viele Europäer dachten, es sei schon längst im Mülleimer der Geschichte gelandet: Das Heilige Römische Reich.»
Zum Glück gibt es die historische Mottenkiste für Gründungsmythen. Leider ist eine an so viel Geschichtsträchtigkeit geknüpfte Integrationspolitik für die einen ein erstrebenswertes Ideal, hingegen für die Schweiz die Geburtsstunde einer Nation.
EU-Unmittelbarkeit stellt sich zwangsläufig ein
Während sich die EU durch die Annahme einer historischen Mission zur Gleichschaltung der Länder auf dem Kontinent definiert, atmet die Schweiz immer noch die Frischluft des Selbstbestimmungsgedanken als Freiheitsidee von diesem alten, untergegangen Reich auf.
Von all den Gründungsmythen einer Nation, von Tieren oder göttlicher Eingabe hin zu heldenhafen Legenden, ist die Annahme der Selbstbestimmung oder Freiheit wohl die heikelste.
Im Gegensatz zu den anderen Gründungsmärchen macht sie es den Politikern aufgrund ihrer Dynamik besonders schwer, ihr stets gerecht zu werden.
Wenn sich heute der Kreis durch das Rahmenabkommen schliesst, dann versteht man leicht, wie sich nach Jahrhunderten stets mit Stolz gefeierter Abkehr von der Reichsunmittelbarkeit hin zur Selbstbestimmung, nun eine ähnliche EU-Unmittelbarkeit zwangsläufig einstellt.
Wenn die Besonderheit des 1806 untergegangen Heiligen Römischen Reichs (Deutscher Nation) in der losen Integration einzelner teilsouveräner Staaten bestand, dann könnte die Reichsidee reloaded, heute als EU, durch das Rahmenabkommen die abtrünnigen Provinzen von einst, heute als souveräne Kantone, wieder heim ins Reich holen.
Wohin die Reise führt, kann keiner genau sagen. Bei dem Tempo der Fahrt bleibt nur übrig, allzeit gute Fahrt zu wünschen.
Dr. Radu Golban (45) hat Politik- und Rechtswissenschaften studiert und in Ökonomie promoviert. Der gebürtige Rumäne ist Autor zahlreicher Artikel und mehrerer Bücher zum Thema EU-Integration (Eurosistemul - o tensiune architecturala a convergentei, UEM incotro, Holograma Europa, Alternative la corsetul Uniunii Europene, Elvetia un model pentru Romania).
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