Neue Migros-Tierwohl-Skala: Kein Heilmittel gegen Massentierhaltung
Seit Montag setzt Migros mit einer neuen Sterne-Bewertung auf Transparenz beim Einkaufen bezüglich Klimabilanz und Tierwohl. Ein Sentience-Politics-Gastbeitrag.
Das Wichtigste in Kürze
- Seit Montag sind in der Migros rund 100 Produkte mit einer Nachhaltigkeitsskala versehen.
- Die Skala gibt Auskunft über die CO2-Bilanz und das Tierwohl des Produkts.
- Ein Gastbeitrag der Organisation Sentience Politics.
Am Montag lancierte die Migros eine Transparenzoffensive: Künftig will sie auf sämtlichen Tierprodukten der Eigenmarken das Tierwohl deklarieren. Das ist grundsätzlich begrüssenswert.
Aufgeklärte Konsument*innen sind auf dem Weg zu einem nachhaltigeren und tierfreundlicheren Ernährungssystem ohne Massentierhaltung zweifelsohne von grosser Bedeutung.
Und dennoch: Erhöhte Transparenz ist zwar ein erster Schritt, sie ist allerdings kein Wundermittel gegen Massentierhaltung.
Verantwortung – bei der Migros oder bei den Konsumierenden?
Die Tierwohl-Skala auf den Produkten birgt Gefahren. Es ist wichtig, dass der Detailhandel sich nicht der Verantwortung entzieht und diese stattdessen auf die Konsumierenden abwälzt. Dieser Ansatz greift nämlich zu kurz, weil er die Machtposition des Detailhandels in dieser Problematik zu wenig hervorhebt.
Der Detailhandel richtet sich bei der Auswahl der eigenen Produktpalette zwar nach dem Kundenbedürfnis, kann aber auch selbst entscheiden, ob schlecht bewertete Produkte in den Regalen landen oder nicht.
Auf dem Weg zu einer Schweiz, die mittelfristig ohne Produkte aus Massentierhaltung auskommt, reicht es nicht, sich auf bewusste Kaufentscheidungen der Konsumierenden zu verlassen – vielmehr muss der Detailhandel selbst in die Pflicht genommen werden und Produktentscheidungen treffen, die sich nicht unmittelbar in einem steigenden Umsatz widerspiegeln.
Ähnliche Ideen in der Vergangenheit ohne erhofften Effekt
Die Migros ist nicht die erste Detailhändlerin, die den Schritt einer transparenten Produktbewertung wagt. Die vergleichbare deutsche «Initiative Tierwohl» wurde 2015 in Zusammenarbeit zwischen Handel, Fleisch- und Landwirtschaft gestartet und in verschiedenen Supermarktketten lanciert.
Ein Jahr nach Einführung war das ernüchternde Fazit, dass die Verbraucher*innen weiterhin sehr stark auf den Preis schauten: 90 Prozent des gekennzeichneten Rindfleisches und 80 Prozent des Schweinefleisches in den Supermärkten waren auf der 4-stufigen Skala mit der tiefsten Rating-Stufe 1 gekennzeichnet. Bei Geflügel war Rating-Stufe 2 am meisten verbreitet.
Die Migros ist deshalb dazu anzuhalten, diese Verkaufszahlen nicht nur transparent und proaktiv zu kommunizieren, sondern – falls notwendig – zusätzliche Massnahmen zu treffen, um Mehrverkäufe auf möglichst hohen Rating-Stufen sicherzustellen.
Sie muss sich selbst in der Verantwortung sehen, den Absatz besser bewerteter Produkte aktiv zu fördern und dafür zu sorgen, dass sich Produkte aus Massentierhaltung auf lange Sicht nicht mehr in den Regalen ihrer Supermärkte finden lassen. Damit sich das Tierwohl in der Schweiz nicht nur in unserer Wahrnehmung, sondern auch in der Praxis verbessert.
Zum Autor: Silvano Lieger ist Geschäftsleiter von Sentience Politics.
Sentience Politics trägt die Interessen nicht-menschlicher Tiere in die Mitte der Gesellschaft. Die Organisation möchte durch institutionelle Veränderungen dafür sorgen, dass auch das Leid nicht-menschlicher Tiere möglichst effektiv minimiert wird. Dafür arbeitet Sentience Politics insbesondere mit den direktdemokratischen Mitteln, die uns in der Schweiz zur Verfügung stehen – namentlich Initiativen auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene.