Darum muss die US-Wirtschaftselite dringend umdenken
Jahrelang haben US-Firmen den Aktionären gedient. Jetzt findet ein Umdenken statt. Wahrscheinlich nicht ganz freiwillig. Eine Analyse.
Das Wichtigste in Kürze
- 180 US-Firmenchefs sehen die Shareholder Value nicht mehr als höchste Priorität.
- In der Ära der Shareholder-Value-Doktrin sind die Cheflöhne massiv gestiegen.
Jahrzehntelang galt in der Business-Welt die Shareholder Value als oberstes Gebot. Firmenchefs und Unternehmen dienen damit in erster Linie den Aktionären. Die Doktrin führte zu einer Ära extremer Gewinnmaximierung, welche in manchen Fällen alles andere als nachhaltig war.
Davon wollen US-Konzernlenker jetzt wegkommen. In einer Vereinbarung erklärten rund 180 Firmenchefs, dass sie neu die Stakeholder als ebenso gewichtig einstufen wie die Aktionäre. Gemeint sind: Angestellte, Lieferanten und die Gesellschaft.
Unterzeichnet haben viele Schwergewichte der US-Wirtschaft. Darunter Apple-Chef Tim Cook, Amazon-Chef Jeff Bezos oder Boeing-Chef Dennis A. Muilenburg. Doch was taugt das Dokument?
Cheflöhne massiv gestiegen
Dass Handlungsbedarf besteht, ist unbestritten. In den letzten 30 Jahren – also während der Etablierung der Shareholder-Value-Doktrin – ist die Lohnungleichheit in den USA substanziell angestiegen. Aktuell verdienen Chefs grosser US-Firmen im Schnitt 278 Mal mehr als ihre Angestellten. Zum Vergleich: In der Schweiz liegt die Lohnschere bei den Grosskonzernen laut der Unia bei 1:134.
Weil die Gewinnmaximierung seit Jahrzehnten zuoberst auf der Prioritätenliste ist, sind Arbeitnehmer in den USA oft stark unter Druck. Das führt zu teils undenkbaren Situationen: Detailhändler Walmart verbietet es Angestellte, sich während der Arbeit auszutauschen. Das sei «Zeitdiebstahl». Und Mitarbeiter der Geflügelfabriken von Tyson tragen teilweise Windeln, weil der Arbeitgeber sie an der Toilettenpause hindert. Ähnliche Beispiele aus anderen Konzernen gibt es haufenweise.
Wollen die US-Konzernlenker Stakeholder stärker gewichten, müssten sie konsequenterweise auch ihre Steuerpolitik verändern. Beispiel Amazon: Der Onlinehändler hat letztes Jahr elf Milliarden Dollar Gewinn gemacht. Bundeseinkommenssteuer musste der Konzern in den USA trotzdem nicht zahlen.
Geld für Lobbying statt Fiskus
Das war im Jahr zuvor nicht anders. Steuerexperten sind sich sicher: US-Konzerne erhalten so grosse Steuergeschenke, weil sie intensiv dafür lobbyieren. Alleine Amazon hat letztes Jahr 14,4 Millionen Dollar für Lobbying ausgegeben.
Ob die US-Wirtschaftsführer ihren Kurs tatsächlich ändern, steht in den Sternen. Doch gibt es Kritiker, die den Wohlfühl-Kurs nicht glauben wollen. Larry Summers, der frühere US-Finanzminister, hält die Vereinbarung für zahnlos. Er kritisiert, dass der Staat – anders als in den Wirtschaftsbüchern – nicht als Stakeholder genannt wird.
Summers glaubt, dass die Wirtschaft mit der Vereinbarung künftiger Regulierung und Gesetzen entgegenheben will. So hat etwa US-Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren vorgeschlagen, dass Unternehmen gesetzlich verpflichtet werden sollen, im Interesse aller Beteiligter zu handeln. Warren reagierte auf die Ankündigung der Wirtschaftselite kritisch. Auf Twitter schrieb die Demokratin: «Wenn sie es ernst meinen, müssen wir jetzt Taten sehen.»