Bereits 20 Mitglieder des Basler Grossen Rats sind zurückgetreten
Beruf und Politik – es wird zunehmend schwierig, beides zu vereinen. Die Zahl der Abgänge ist aktuell ausserordentlich hoch.
Das Wichtigste in Kürze
- Seit Beginn dieser Legislatur sind bereits 20 Mitglieder des Grossen Rats ausgetreten.
- Die Vereinbarkeit von Beruf und Politik stellt eine Herausforderung dar.
- Überproportional viele weibliche Grossrätinnen sind zurückgetreten.
Mitte April dieses Jahres trat Karin Sartorius aus dem Basler Grossen Rat zurück. Das politische Mandat sei einfach zu viel, sagte sie damals der «Basler Zeitung». Die Freisinnige ist alleinerziehende Mutter dreier schulpflichtiger Kinder, arbeitet bei der kantonalen Standortförderung und engagiert sich auch ehrenamtlich.
Sartorius ist kein Einzelfall. Seit Beginn der Legislatur am 1. Februar 2021 haben bereits 20 Grossrätinnen und Grossräte das Basler Kantonsparlament vorzeitig verlassen. Zehn davon waren Frauen.
Gemessen am weiblichen Anteil im Parlament von 39 Prozent sind also überproportional viele Frauen zurückgetreten. Überhaupt habe es in der ersten Hälfte der aktuellen Legislatur ausserordentlich viele Abgänge gegeben, sagt Beat Flury.
Er leitet die Parlamentsdienste und ist damit sozusagen der Verwalter des Grossen Rats. In der vergangenen Legislatur kam es im selben Zeitraum zu 13 und insgesamt zu 26 Abgängen.
Ein zentraler Punkt: berufliche Veränderungen
Der Grund für einen vorzeitigen Rücktritt ist nicht selten die berufliche Tätigkeit, die sich nicht mit dem politischen Mandat vereinbaren lässt. So war es auch bei Marianne Hazenkamp-von Arx.
Die grüne Grossrätin verabschiedete sich bereits nach einem Jahr wieder vom Kantonsparlament, weil sie wegen ihrer neuen leitenden Stelle in Bern keine Zeit mehr hatte. Kommen wie im Fall von Sartorius Kinder hinzu, sind die Herausforderungen noch grösser.
Bereits 2009 veröffentlichte das Soziologische Institut der Universität Basel im Auftrag des Büros des Basler Grossen Rats eine Studie zum Thema. Diese zeigte auf, dass berufliche Veränderungen ein zentraler Punkt sind.
Gründe für einen vorzeitigen Rücktritt seien nicht in der Struktur des Grossen Rates, sondern ausserhalb zu suchen, so die Forscher. Die Anforderungen der Gesellschaft an die Politikerinnen und Politiker vergrössern den Aufwand zunehmend. Müssen die Ratsmitglieder wählen, entscheiden sie sich für Beruf und Familie und gegen das Grossratsmandat.
Seit der Studie sind 14 Jahre vergangen, und die Situation scheint sich nicht verbessert zu haben. Auch deswegen war das diesjährige Forum der Parlamentsdienste, das Ende Juni in Basel stattfand, der Milizpolitik und deren Herausforderungen gewidmet.
Wie lassen sich Beruf, Familie und politisches Amt vereinen, und was können die Parlamentsdienste zur Verbesserung der Situation beitragen? Diese Fragen standen im Zentrum der Veranstaltung, an der rund 80 Mitarbeitende von Parlamentsdiensten aus der ganzen Schweiz teilnahmen.
Zudem diskutierten Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus verschiedenen Kantonen über ihre Erfahrungen. Aus Basel-Stadt nahmen die Grüne Jo Vergeat und der inzwischen zurückgetretene Jeremy Stephenson von der LDP an der Diskussionsrunde teil.
Fremdverwaltung als letzte Option
Es gebe schon einen Grund, weshalb sie ihren Master noch nicht abgeschlossen habe, sagte Vergeat. Das Parlamentsmandat sei sehr zeitintensiv. Die heute 29-Jährige rückte 2019 in den Grossen Rat nach und war als jüngste Grossrätin bereits Präsidentin der Spezialkommission Klimaschutz und später Grossratspräsidentin. «Ohne die Unterstützung des Parlamentsdienstes wäre dies nicht möglich gewesen», betonte Vergeat.
Der 71-jährige Stephenson wiederum zog erst nach seiner Pensionierung ins Parlament. Als Strafgerichtspräsident durfte er nicht gleichzeitig ein politisches Mandat ausüben.
Am Podium nahm auch der Soziologe und frühere Basta-Grossrat Ueli Mäder teil. «Wirtschaftliche Anliegen gewinnen gegenüber der Politik an Bedeutung», stellte er fest. Dadurch verändere sich auch die Parlamentsarbeit. Sie erfordere viel fachliche Kompetenz.
Das Thema der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und politischem Amt beschäftigt nicht nur in Basel-Stadt. Es wird in der ganzen Schweiz immer schwieriger, Milizämter zu besetzen. Vor allem Gemeinden haben Mühe, geeignete Kandidatinnen und Kandidaten für ihre Exekutiven zu finden. Das kleine Baselbieter Dorf Kilchberg etwa rief viermal zur Wahl, um einen der drei Sitze im Gemeinderat zu besetzen.
Viermal klappte es nicht – der Kanton Baselland musste schliesslich eine Statthalterin einsetzen, die nun seit einem halben Jahr die Lücke füllt. Auch im Bundesparlament gab das Thema der Vereinbarkeit in den vergangenen Jahren wiederholt Anlass zu Vorstössen und Debatten.
70 Prozent der Unternehmen sehen keinen Bedarf
2021 untersuchten die Fachhochschule Graubünden und Politberater Andreas Müller von Politconsulting, wie es um die Vereinbarkeit von Beruf und politischem Amt steht und was Unternehmen dafür tun, diese zu verbessern.
Die Studie kam zum Schluss, dass die Politikerinnen und Politiker ein stärkeres Engagement der Wirtschaft wünschen: Arbeitgebende sollen das Milizsystem fördern. Doch nur 9 Prozent der Unternehmen nehmen diesbezüglich eine aktive und 21 Prozent eine passiv unterstützende Rolle ein. 70 Prozent der Betriebe sehen hingegen keinen Bedarf.
Staatsangestellte sind gegenüber Politikerinnen und Politiker, die für ein privatwirtschaftliches Unternehmen arbeiten, im Vorteil. Sie werden in der Regel für ihr Mandat freigestellt und sind im Parlament entsprechend überdurchschnittlich vertreten.
Basel-Stadt kommt den berufstätigen Parlamentarierinnen und Parlamentariern nun ein bisschen entgegen. Sie erhalten künftig ein Kontingent von maximal vier Sitzungstagen pro Legislatur, an denen sie digital abstimmen können.
Zudem dürfen Ratsmitglieder neu während der Schwangerschaft und des Mutterschaftsurlaubs in Abwesenheit abstimmen. Auch bei einem Vaterschaftsurlaub und beim Adoptionsurlaub sind digitale Abstimmungen möglich.
Dasselbe gilt, wenn jemand wegen eines Unfalls oder einer Krankheit das Rathaus während mindestens zwei Monaten nicht aufsuchen kann. Das Ratsbüro kann zudem in Krisensituationen wie zum Beispiel in einer Pandemie beschliessen, dass Ratsmitglieder online abstimmen können.
Sitzungsgeld wird in Abwesenheit aber nicht ausbezahlt. Doch tragen diese Neuerungen ein Stück zu einer besseren Vereinbarkeit von Politik, Beruf und Privatleben bei.
Zu den Autoren: Dieser Artikel wurde zuerst im Basler Newsportal OnlineReports.ch publiziert. Per 1. Juli haben Alessandra Paone und Jan Amsler übernommen.