VFR Kleinhüningen gegen Xamax: Aussenseiter fordern Profis heraus
Als «Ausländerpack» werden sie beschimpft und sind mit Disziplinarmassnahmen konfrontiert. Nun steht der VFR Kleinhüningen vor einem historischen Cupspiel.
Das Wichtigste in Kürze
- Am Wochenende empfängt der VFR Kleinhüningen Xamax im Schweizer Cup.
- Dank erstmaligem Triumph im Basler Cup qualifizierte sich der Verein für den Wettbewerb.
- Im Alltag sind die Spieler oft Anfeindungen und Beleidigungen ausgesetzt.
Am Rande der Stadt. Wo alles ist, was im Zentrum nicht sein darf: Kläranlage, Industrieabfälle, Arbeitersiedlungen.
Dort liegt Kleinhüningen, das einzige Dorf, das in die Stadt Basel eingemeindet wurde. Ein Quartier mit hohem Ausländeranteil, hoher Sozialhilfequote und ganz wenigen Millionären.
Und mit einem Fussballclub, dem VFR Kleinhüningen; Spiegelbild der Quartierbewohnerinnen und -bewohner und ihren Herausforderungen.
Im Verein sind Mitglieder aus 34 Nationen und fünf Kontinenten vertreten. «Wir haben Menschen ohne einen richtigen Job, und Menschen, die über 100 Prozent arbeiten, aber dennoch nicht genug Geld verdienen, um leben zu können», sagt Präsident Massimo Pieri. Er selbst ist Italiener zweiter Generation.
Pieri stellt einen Tisch und zwei Stühle auf die Terrasse des Schore-Clubhüüsli. Die Schorenmatte bei den Langen Erlen ist der Heimplatz des VFR Kleinhüningen. Das Vereinslokal ist an diesem Mittwochabend im August geschlossen.
Die Stühle sind hochgestellt, die beiden Rasenfelder leer. Die Trainings finden derzeit auf dem Bäumlihof statt. Die Felder seien zu stark abgenutzt und müssten sich für den Saisonstart erholen, sagt Pieri.
Der 60-Jährige ist erst seit einem Jahr Präsident des VFR Kleinhüningen, er gehört aber seit 20 Jahren dem Vorstand an. «Eigentlich könnte ich als Präsident bereits wieder zurücktreten», sagt er und lacht.
Denn Pieri ist gerade dabei, mit seinem Club Geschichte zu schreiben: Der VFR Kleinhüningen hat dieses Jahr zum ersten Mal eine Frauenmannschaft. Und nach dem Sieg im Basler Cup am 17. Juni hat sich das Drittliga-Männer-Team automatisch für den Schweizer Cup qualifiziert.
Am kommenden Sonntag trifft es auf den Westschweizer Club Neuchâtel Xamax, der in der Challenge League spielt.
100 Kinder auf der Warteliste
Der VFR Kleinhüningen hätte das Sensations-Spiel gerne im Kleinbasel ausgetragen. «Bei uns», wie Präsident Pieri sagt. Die Schorenmatte ist allerdings viel zu klein und ungenügend ausgerüstet für die rund 700 erwarteten Zuschauerinnen und Zuschauer.
Obwohl die Sportanlage vor wenigen Jahren für über sieben Millionen Franken saniert wurde, hat sie nur ein reguläres Spielfeld. Der Platzmangel hat harte Konsequenzen: 100 Kinder hoffen auf einen Platz in einer Mannschaft und stehen auf der Warteliste.
Das Stadion Rankhof kommt aus Sicherheitsgründen für das Cup-Spiel ebenfalls nicht infrage. Deshalb findet die Partie nun im Stadion Schützenmatte auf der anderen Seite des Rheins statt. Näher am Zentrum.
Noch lieber als gegen Neuchâtel Xamax hätte der VFR Kleinhüningen gegen den FC Basel gespielt. Das Derby hätte mehr Publikum angelockt. Es sah bei der Auslosung auch lange gut aus, aber am Ende hat es dann doch nicht geklappt.
Pieri sieht das Cupspiel als Chance, dem Quartier und den Vereinsmitgliedern Wertschätzung und Anerkennung zukommen zu lassen. Und Stolz! Um für einmal aus der Position des Underdogs herauszukommen. Die Qualifikation ist bereits ein Sieg, alles weitere eine Sensation.
«Die Partie gegen Neuchâtel Xamax zu gewinnen, wäre wie der Meistertitel des SSC Napoli», sagt Pieri. Ein Triumph der Armen, wie die «Frankfurter Rundschau» titelte. Der süditalienische Fussballklub eroberte vergangene Saison, 33 Jahren nach dem letzten Meistertitel mit Diego Maradona, den Scudetto.
Für viele dieser jungen Erwachsenen ist der Fussball der einzige soziale Bereich, in dem sie sich profilieren können. Doch die Spieler des VFR Kleinhüningen werden auf dem Feld immer wieder auf ihre Herkunft reduziert.
Der Trash-Talk an Auswärtsspielen sei massiv, sagt Pieri. «Unsere Mannschaften werden provoziert und häufig als Ausländerpack, Scheiss-Albaner oder Drecks-Portugiesen bezeichnet.» Vor allem auf dem Land.
Die Frustrations- und Toleranzgrenze sei bei einigen VFR-Spielern sehr tief; sie liessen sich zu schnell provozieren und zu Verhaltensweisen hinreissen, die nicht geduldet werden können. Der Verein sei deshalb oft mit Disziplinarmassnahmen konfrontiert.
Der Fussballverband Nordwestschweiz habe sich deswegen auch schon beim Verein beschwert. Pieri hat darauf mit einem Brief reagiert und auf die wichtige Integrationsarbeit des Vereins hingewiesen. «Dank der Vereinsaktivitäten erhalten viele, die keine Arbeit haben, Working-Poors sind, mit einer Sucht oder mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, eine gewisse Struktur im Alltag; sie erhalten dadurch ein soziales Netz und fallen so nicht durch die Maschen», heisst es in dem Schreiben.
Das Ziel des Vereins sei es, an dieser Frustrationsgrenze zu arbeiten und die Spieler gegenüber solchen Provokationen und anderen Herausforderungen resistenter und resilienter zu machen, sagt Pieri. Der Fussballverband hat sich inzwischen bereit erklärt, den Verein mit einem Experten für Gewaltprävention zu unterstützen.
Nur Tanja Soland geht zum Spiel
Die soziale Funktion des VFR Kleinhüningen wird auch in Polit-Kreisen anerkannt. Der Verein sei mit dem Basketballclub Bären Kleinbasel vergleichbar, der ebenfalls wichtige Integrationsarbeit leiste, sagt Heidi Mück. Die Basta-Grossrätin wohnt in Kleinhüningen. Ihre inzwischen erwachsenen Kinder haben vor vielen Jahren im heimischen Fussballclub gespielt.
«Die Integrationsleistung solcher Clubs passiert häufig unter dem Radar», sagt Christoph Brutschin. Der frühere Basler SP-Regierungsrat ist ein begeisterter Fussballfan. Der VFR Kleinhüningen sei als SC Kleinhüningen ein starkes Team gewesen, und die enge Schorenmatte eine Festung.
Heute liege der Fokus stärker auf der Beteiligung. «Das finde ich sehr gut.»
So sehr sie die Arbeit des VFR Kleinhüningen auch schätzen – weder Mück noch Brutschin werden am Sonntagnachmittag in der Schützenmatte sein. Vielleicht wäre er zum Spiel gegangen, sagt Brutschin. Doch er sei an diesem Tag an einem Geburtstagsfest.
Auch Regierungspräsident Beat Jans hat abgesagt; er sei dann leider anderweitig besetzt. Der Anlass zeige aber, «wie vielfältig der Kanton Basel-Stadt ist, und dass es hier für alle Menschen die Möglichkeit gibt, Erfolg zu haben».
Von den Regierungsmitgliedern geht nur Tanja Soland zum Spiel. Die SP-Finanzdirektorin stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Sie weiss, wie es ist, am Rand zu spielen.
Zur Autorin: Dieser Artikel wurde zuerst im Basler Newsportal OnlineReports.ch publiziert. Per 1. Juli haben Alessandra Paone und Jan Amsler übernommen.