Manuel C. Widmer (Grüne): Stopp Werbung! Stopp Demokratie?
Viele Menschen möchten keine Werbung in ihrem Briefkasten, auch keine Wahlwerbung. Dies sollte man jedoch differenziert betrachten. Ein Gastbeitrag.
Das Wichtigste in Kürze
- Zahlreiche Menschen haben einen «Keine Werbung!»-Sticker auf ihrem Briefkasten.
- Bei Wahlwerbung kann dieser jedoch getrost ignoriert werden.
- Viele stört das, sie wollen keine «Wahlpropaganda».
- Jedoch muss solche Post Teil einer Demokratie sein, findet Grossrat Manuel C. Widmer.
An meinem Briefkasten prangen drei verschiedene Aufforderungen gleichen Inhalts: «Stopp! Keine Werbung!» Und einmal steht da noch «Keine Werbung von Pizzakurieren!» Das steht da, weil sich vor allem Pizzakuriere nicht an die Stopp-Kleber halten.
Auch, weil es mittlerweile ein Geschäftsmodel von zwielichtigen Verteil-Firmen ist: Sie bieten die Verteilung von Flyern ohne Rücksicht auf die Kleber an. Weil man sie kaum dafür behaften kann – und weil sie zünftig viel Geld verlangen können.
Diskussion um Wahlwerbung
Letze Woche ist im Rahmen der National- und Ständeratswahlen nun eine Diskussion aufgebrandet: Warum landen trotz Stopp-Kleber Wahlflyer in Briefkästen. Konsumentenschutz und TA-Medien werfen der Post vor, viel Geld damit zu verdienen, auch Briefkästen mit Stopp-Klebern mit Wahlpropaganda zu bedienen. Nun sollte man erwarten, dass ich der erste bin, der in diesen Kanon einstimmt und diese Mache verurteilt. Nur – so einfach ist das nicht.
Man kann eine Miliz-Demokratie nicht mit einem Pizzakurier vergleichen. Noch viel besser als die beste Pizza ist nämlich das politische System der Schweiz. Unsere direkte Wahl- und Abstimmungsdemokratie. Die Möglichkeit, immer wieder den Kampf der Ideen an der Urne auszufechten und immer wieder die Möglichkeit zu haben, die Parlamente von Bund, Kanton und Gemeinde neu zu bestellen.
60 Prozent der Bevölkerung verzichten regelmässig abzustimmen
Während aber andernorts auf der Welt Menschen für diese Rechte kämpfen und mancherorts sogar sterben, verzichten 60 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer regelmässig darauf, an Abstimmungen und Wahlen teilzunehmen – um dann über «die da oben» zu fluchen, die «sowieso machen, was sie wollen». Diese Demokratiemuffel schaffen es, sogar ihre eigene Faulheit anderen anzulasten…
Direkte Demokratie erlaubt einem Teilhabe, Mitbestimmung. Das bedingt aber, dass man sich zu unterschiedlichsten Themen eine Meinung macht, dass man Argumente sammelt, abwägt und zu einer eigenen formt. Demokratie fordert einen heraus, sich zu entscheiden, wen man wählen will – und wen nicht. Dazu müssen die Stimm- und Wahlberechtigten aber Zugang zu den verschiedenen Ansichten, Argumenten und Vorstellungen haben.
Die grossen Player wie die SVP, die SP, Wirtschaftsverbände oder Gewerkschaften können es sich leisten, ihre Meinung in alle Haushalte mit bezahlter Werbung der Schweiz verteilen zu lassen. Das gilt aber nur für die Grossen. In einer funktionierenden Demokratie sollten aber alle Meinungen den gleichen Zugang zu den Stimm- und Wahlberechtigten haben. Womit wir wieder bei den Stopp-Klebern wären.
Wahl- und Abstimmungsflyer sind nicht das Problem
Es ist richtig, dass diese nicht für Wahl- und Abstimmungspropaganda gelten. Wer Demokratie will, wer Meinungspluralismus will, der muss aushalten, dass vor Wahlen und Abstimmungen Flyer unterschiedlichster Kandidatinnen und Kandidaten sowie Gruppierungen in seinem Briefkasten landen.
Das ist ein minimal kleiner Preis für die Möglichkeiten der direkten Demokratie. Und wer meint, «das Ganze gehe ihn nichts an und man solle ihn damit in Ruhe lassen», ist selbst schuld. Die paar Wahl- und Abstimmungsflyer sind nicht das Problem.
Immer mehr Häuser haben neuerdings unzugängliche Briefkästen, im Hausflur eingeschlossen. Die Bewohnerinnen und Bewohner solcher Häuser erhalten zwar keine kommerzielle Werbung mehr – aber sie werden auch von der politischen Willensbildung ausgeschlossen. Ausser jenen Meinungen, die für den Zugang per Post bezahlen können.
Geld sollte Meinungsbildung nicht beeinflussen
Es tut der Demokratie nicht gut, wenn die Meinungsvielfalt vom Portemonnaie abhängt. Darum ist es auch störend, dass die Post mit dem Verteilen von bezahlter Propaganda in alle Briefkästen, die sich nur wenige leisten können, viel Geld verdient. Darüber darf man gerne diskutieren.
Das Problem sind nicht die paar Wahl- und Abstimmungsflyer. Das Problem sind zum Beispiel Pizzakuriere, die ihre Flyer trotz Stopp-Kleber in alle Briefkästen werfen lassen. Und damit die 50 Prozent ignorieren, die keine Werbung wollen.
50 Prozent Flyer zu viel bezahlt, zu viel gedruckt, 50 Prozent Ressourcen für nichts verbraucht. Zu rein kommerziellen Zwecken. Ich persönlich bestelle bei keinem, der mein Stopp nicht lesen kann. Aber jemanden wählen, der mich mit seinem Flyer in meinem Briefkasten überzeugt, das kann schon mal passieren.
Zum Autor: Manuel C. Widmer ist Berner Grossrat für die Grüne Freie Liste Stadt Bern. Von Beruf ist er Lehrer und DJ.