«Einsiedler Welttheater»: Lukas Bärfuss fragt nach dem Menschen
Die 17. Aufführung «Das Grosse Welttheater» findet auf der Einsiedler Theaterbühne statt – in der Bearbeitung von Lukas Bärfuss.
1924 wurde in Einsiedeln erstmals «Das Grosse Welttheater» des spanischen Barock-Dichters Calderón aufgeführt. Hundert Jahre später findet die 17. Aufführung statt – in der Bearbeitung von Lukas Bärfuss. Für sein «Einsiedler Welttheater» findet der Büchner-Preisträger eine überzeugende Verbindung von Barock und Moderne.
Die Einsiedler Theaterbühne ist kolossal. Das imposante Kloster, davor der weite Platz nötigen einem Theaterautor Respekt ab. Schon 2017 sagte Lukas Bärfuss an einer Pressekonferenz, dass alles sei so riesig und eigentlich unmöglich zu bespielen. Dennoch ist er das Wagnis eingegangen.
Bärfuss' Skepsis hat auf die Figur des Autors im Stück abgefärbt. «No show today», verkündet dieser eingangs in vielen Sprachen. «Es git nüt hütt. Vete a casa.» Gegen diese Absage lehnen sich zwei Figuren auf, Pablo und Emanuela in der Rolle der «ungeborenen Kinder». «Ich wott spile, begrifsch?», beharrt das Mädchen und setzt sich schliesslich mit einem dreifachen «Ich wott!» durch. Das Schauspiel wird eröffnet.
Bärfuss setzt einen starken Akzent
In der Tradition des Barock treten im Welttheater keine psychologisierten Figuren auf, sondern typisierte, wie etwa der König, der Reiche oder der Arme, die für Teile der Gesellschaft stehen. Darüber hinaus sind auch die Welt , die Schönheit oder die Vernunft Figuren des Stücks, mithin Stellvertreter, die zusammengenommen die Welt, ihre Werte und Funktionen ausmachen.
Mit dem Auftritt der Kinder setzt Bärfuss einen starken Akzent. Von den Kindern kommt die erneuernde Kraft auch für das Welttheater, während die «hundertjährigen» allegorischen Figuren wie Säulenheilige stumm am Rand der Bühne stehen.
Was ist der Mensch? Welche Rolle spielt er und was macht er aus seinem Leben? Mit diesen grundsätzlichen Fragen aktualisiert Lukas Bärfuss ein barockes Kernthema. Wo sich Calderóns Figuren in ihre zugedachten Rollen fügen, führt Bärfuss den Menschen als suchendes, aufbegehrendes Individuum auf die Bühne. Mit einer diskreten Erinnerung an Max Frisch hält es Emanuela dem Autor vor: «Mit Figure häsch grächnet. Aber mir zahle als Mönsche.»
Im Mädchen, das im Lauf des Stücks zur Frau wird, steckt ein rebellischer Geist. Emanuela entzieht sich der auferlegten Demut. Bei Calderón souffliert das Gesetz der Gnade immer wieder: «Tue recht – Gott über euch.» Bei Bärfuss spielt dieses Gesetz keine Rolle mehr, denn ein Gesetz spielt nicht, es regiert. Genau «gäge das Gsetz / wo wenige viel git, / und vilne wenig laht», begehrt Emanuela auf.
Barockzeit steht für eine üppige Feier des Lebens
Es gebe für den Menschen nur zwei Welten, das Heilige oder die Revolte, schreibt einst der Existenzialist Albert Camus im Essay «Der Mensch in der Revolte». Doch die Revolte, fährt er fort, sei getragen von Solidarität. Mit ihr dankt das Heilige nicht ab, sondern nimmt eine andere Form an. Wo die Religion in der Moderne versagt, kann die Solidarität als Kraft aushelfen. Daran scheint sich Bärfuss für seine Bearbeitung orientiert zu haben.
Und dafür kämpft Emanuela im Welttheater. «Mir holed eus das Spiel zrugg!», ruft sie trotzig, «mit eusne eigene Regle! / Für d Grächtigkeit!» Sie spielt selbst alle allegorischen Rollen und legt sie wieder ab – zuletzt die der Schönheit, denn inzwischen ist sie zur Greisin geworden. «D Schönheit ghat! / Du und das Spil / ihr sind volländet!» verkündet die «Welt». Das Theater ist aus.
Die Barockzeit steht für eine üppige Feier des Lebens ebenso wie für Demut vor dem Schicksal, dem Tod. Diese existentielle Spannung beunruhigt auch den modernen Menschen, selbst wenn er sich gegen die Wechselfälle des Schicksals versichert. «Es gaht witer ohne dich» – das bleibt der Kern auch des Einsiedler Welttheaters.
Lukas Bärfuss gerät gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA ins Schwärmen. Ihn reize «die Frage nach der Wahrheit und dem Schein». Er fügt an: «Was könnte aktueller sein», und was politischer? Zugleich begeistert ihn das Lautmalerische am spanischen Original, das ihn an moderne Dichtung eines Tristan Tzara zum Beispiel erinnert.
Zwischen Revolte und Vergänglichkeit
Sprachlich stimuliert Bärfuss sein Spiel deshalb mit kurzen, pointierten Dialogen, die den Raumklang des weiten Platzes nutzen und das Geschehen auf der Bühne in Bewegung halten. Die Ernsthaftigkeit begegnet dabei auch dem Schalk. Und zwei «Mondheber» umrahmen das Stück mit einer slapstickhaften Einlage, die am Ende reine Poesie schafft.
Das Welttheater von Lukas Bärfuss bleibt dem historischen Vorbild in Sinn und Geist verbunden. Er habe versucht, bestätigt er, ein Stück für alle Schichten und Alter zu schaffen, «damit einfach alle Spass daran haben – beim Spielen und beim Zuschauen». Die Zahl der Rollen hat er stark aufgefächert, sodass die Welt mit einem farbigen Tross von «Wundern» auftreten kann, mit Winden und Wogen im Gefolge, aber auch mit Plagen und Seuchen.
«Welche Rolle ist die deine?», fragt die «Welt» bei Calderón. Bei Lukas Bärfuss schwingt die menschliche Existenz zwischen Revolte und Vergänglichkeit. Er inszeniert das Stück ebenso lebhaft wie aufmüpfig – und hat seine Rolle als Autor gefunden.
Hundert Jahre nach der ersten Aufführung und 24 Jahre nach der Auffrischung durch den Autor Thomas Hürlimann, schreibt Lukas Bärfuss die Einsiedler Tradition fort. Im Herzen der «grössten Theatercompagnie der Welt», der Kirche, wie er im Nachwort schreibt, soll vor allem der Enthusiasmus des «Spielvolks in Einsiedeln» hochleben.*