Für den Literaturnobelpreis haben es erneut knapp 200 Namen auf die erweiterte Liste geschafft – wer darunter ist, das wird traditionell geheim gehalten.
Salman Rushdie
Salman Rushdie. (Archivbild) - imago/UPI Photo

Die europäische Literatur kann sich über mangelnde Nobel-Ehren wahrlich nicht beklagen: Der Grossteil der Literaturnobelpreisträger der vergangenen Jahre stammte aus Europa, darunter zuletzt der Norweger Jon Fosse und die Französin Annie Ernaux.

Nun richtet sich der Blick der literarischen Welt erneut auf ein altehrwürdiges Gebäude in der Altstadt von Stockholm: Dort wird die Schwedische Akademie am Donnerstag (10.10.) das Geheimnis lüften, wen sie in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis auszeichnet.

Kandidaten gibt es genug: Nach Auskunft der Akademie haben es erneut knapp 200 Namen auf die erweiterte Kandidatenliste geschafft – wer darunter ist, das wird traditionell 50 Jahre lang geheim gehalten.

Bleibt also vorab nur Rätselraten, wer es diesmal werden könnte: Geht der Nobelpreis nach der Europa-Lastigkeit der Vorjahre diesmal an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller aus einer anderen Weltregion?

Oder könnte der renommierteste Literaturpreis der Erde doch wieder auf dem europäischen Kontinent bleiben – und womöglich einen deutschsprachigen Literaten ehren, fünf Jahre nach Peter Handke, 15 Jahre nach der Auszeichnung von Herta Müller, 20 Jahre nach dem Preis für Elfriede Jelinek und 25 Jahre nachdem Günter Grass ihn bekam?

Eine asiatische Favoritin

Die Literaturkritikerin Ulrika Milles des schwedischen Rundfunksenders SVT hatte nach der Kür des Vorjahrespreisträgers Fosse die Vermutung geäussert, dass es diesmal Zeit dafür sein könnte, dass der Preis nach Asien und vielleicht an eine Frau gehen könnte. Ihrem Bauchgefühl kann man durchaus vertrauen: Die Schwedin hat in den vergangenen vier Jahren gleich dreimal kurz vor der Preisbekanntgabe den richtigen Namen vorhergesagt.

Wer diesmal ihr Favorit – beziehungsweise ihre Favoritin – ist, ist noch nicht bekannt. Eine Top-Favoritin bei zwei Online-Wettanbietern könnte aber auf das von Milles ausgegebene Profil passen: Der Chinesin Can Xue werden dort beste Chancen auf eine Auszeichnung eingeräumt.

Darüber hinaus werden vor allem Namen genannt, die bereits seit Jahren zum engeren Favoritenkreis zählten. Darunter sind etwa die Kanadierin Anne Carson, die Russin Ljudmila Ulitzkaja, der Kenianer Ngugi wa Thiong'o, der Australier Gerald Murnane und der Japaner Haruki Murakami.

Ein Brückenbauer

Geht es nach dem deutschen Literaturkritiker Denis Scheck, dann ist der Literaturnobelpreis für einen anderen Weltliteraten längst überfällig. «Es wäre höchste Zeit, dass die Nobelpreisjury Salman Rushdie auszeichnet», sagt Scheck. Rushdie sei ein «Brückenbauer zwischen zwei Welten», nämlich Indien und dem Vereinigten Königreich.

«Er ist ein Symbol für die Freiheit des Wortes, für den beherzten Kampf gegen die Zensur insgesamt geworden», sagt Scheck über den Autor des Werks «Die satanischen Verse», gegen den der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini Ende der 80er Jahre eine Fatwa ausgesprochen hatte und auf den 2022 in den USA ein lebensgefährliches Attentat verübt worden war.

In diesem Jahr ist Rushdies Buch «Knife – Gedanken nach einem Mordversuch» erschienen, in dem der aus Indien stammende britisch-amerikanische Schriftsteller das Attentat und dessen Folgen verarbeitet.

Auch andere Autorinnen und Autoren von Weltrang hätten den Nobelpreis laut Scheck absolut verdient. Wenn er sich neben Rushdie einen weiteren Preisträger wünschen dürfte, dann wäre der Amerikaner Thomas Pynchon nun endlich an der Reihe, sagt der Kritiker. Pynchon sei «der grosse Postmoderne der US-amerikanischen Literatur».

Die Kanadierin Margaret Atwood sei in seinen Augen «die Literaturnobelpreisträgerin der Herzen», und auch die besagte Can Xue wäre als «eine der zahlreichen Dissidentenstimmen in der chinesischen Literatur» ebenfalls eine würdige Preisträgerin.

Mögliche deutsche – und deutschsprachige – Kandidaten

Aus deutscher Sicht ist es ein Jahr der vor allem halbrunden Jubiläen: Vor 95 Jahren wurde Thomas Mann mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, vor 25 Jahren Grass und vor 15 Herta Müller. Mit dem Österreicher Handke wurde vor fünf Jahren der vorerst letzte deutschsprachige Autor mit dem Preis geehrt.

Gibt es heutzutage noch potenzielle Preisträger, die auf Deutsch schreiben? Aus Schecks Sicht gleich eine ganze Reihe. Sein Herzenskandidat in dieser Hinsicht ist der Österreicher Christoph Ransmayr. «Er hat den Preis mehr als verdient, weil er der Weltliteratur wirklich eine ganz eigene Facette hinzugefügt hat», sagt Scheck über den Autor des Romans «Cox oder Der Lauf der Zeit».

In der «Nobelpreisliga» spielen aus seiner Sicht als Vertreter einer jüngeren Generation auch Jenny Erpenbeck, Daniel Kehlmann und Judith Hermann. Preise für Arno Geiger oder Saša Stanišić fände Scheck ebenfalls sehr in Ordnung.

Der Literaturkritiker scheint nicht der Einzige zu sein, der Jenny Erpenbeck auf dem Schirm hat: In einer Buchhandlung im Zentrum von Stockholm liegen derzeit Bücher einiger Nobelpreisanwärter aus, darunter Romane von Murakami, Atwood und der Amerikanerin Joyce Carol Oates – und in vorderster Reihe auch Erpenbecks Werke «Kairos» und «Heimsuchung».

Wer es am Ende wird? Das erfährt die Weltöffentlichkeit am Donnerstag nicht vor 13.00 Uhr. Ausgezeichnet wird der oder die Geehrte dann traditionell am Todestag des Preisstifters und Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833-1896) am 10. Dezember. Verbunden sind die seit 1901 vergebenen Nobelpreise in diesem Jahr erneut mit einem Preisgeld in Höhe von elf Millionen Schwedischen Kronen pro Preiskategorie.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

NobelpreisErdeSalmanLiteraturnobelpreis