Quebec-Krimi: «Aus den Schatten des Vergessens»
Menschen werden ermordet, und Polizisten versuchen, die Täter zu finden. Da unterscheidet sich Martin Michauds «Aus dem Schatten des Vergessens» nicht von anderen Krimis. Aber viele andere Aspekte machen den Roman des Kanadiers ungewöhnlich.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine bedrohliche Vergangenheit wird zur aktuellen Gefahr in Martin Michauds Krimi «Aus den Schatten des Vergessens».
In Montreal, der Metropole der frankokanadischen Provinz Quebec, wird eine ältere Frau in ihrem Haus überfallen und entführt. Am nächsten Tag erhält der Chef einer etablierten Anwaltskanzlei eine Todesdrohung.
Das mysteriöse Bindeglied zwischen den Vorfällen: Beide hören auf einmal die Stimme von Lee Harvey Oswald, der 1963 John F. Kennedy erschossen haben soll.
Einen weiteren Tag später stürzt sich ein Obdachloser von einem Hochhaus. Die Polizisten, die zu seiner Rettung herbeigerufen wurden, können den Mann nicht von seinem Vorhaben abbringen, aber sie erfahren von ihm, dass der Grund für seine Verzweiflungstat weit in seiner Vergangenheit liegt. Seine einzigen Hinterlassenschaften sind die Brieftaschen der beiden anderen Opfer, die im Roman aufgetaucht waren.
Die Hintergründe dieser Ereignisse soll ein erfahrenes Ermittlerteam der Montrealer Polizei aufklären. Erfahren bedeutet jedoch nicht, dass sie gut aufeinander eingestellt wären. Stattdessen herrscht ein Dauerkonflikt zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Charakteren.
Victor Lessard, der ältere und ranghöhere der beiden, hat seit seiner Scheidung kein Privatleben mehr, kam erst vor Kurzem aus dem Alkoholentzug und fällt immer wieder durch heftige Wutausbrüche auf. Jacinthe Taillon hält sich für kompetenter als ihr Kollege und zeigt ihm das bei vielen Gelegenheiten. Sie bestimmt, welche Musik im Dienstwagen läuft und fährt äusserst rasant, stets bereit für eine Verfolgungsjagd.
Action- und Gewaltszenen gibt es reichlich im Roman. Nicht immer tragen sie zur Entwicklung der Handlung bei, häufig sollen sie wohl eher kurzfristige Spannung auslösen. Auf den mehr als 600 Seiten sind zahlreiche Erzählstränge und Figuren untergebracht, so dass es bisweilen schwer wird, den Überblick zu behalten.
Eine feste Konstante im Roman ist aber der Handlungsort Montreal. Die mit ihrer Mischung aus alten und modernen Stadtteilen malerisch am St. Lorenz gelegene Metropole verbindet die Handlungselemente. «Ich wollte Montreal als handelnde Figur einsetzen», sagte Michaud im Interview mit dem Sender CBC. Das ist ihm eindrucksvoll gelungen.
«Je me souviens» heisst der Roman im französischen Original. Wörtlich übersetzt: «Ich erinnere mich». Aber diese Übersetzung trifft nur einen Teil der Bedeutung, denn «Je me souviens» ist auch das Motto der Provinz Quebec, das die Frankokanadier an ihre besondere Situation erinnern soll als Nachkommen französischer Kolonisten in einer feindlichen, englischsprachigen Welt und kulturelle Besonderheit im heutigen Kanada.
Die Frage nach Identität verbindet als Oberthema die unterschiedlichen Teile von «Aus dem Schatten des Vergessens». In einem Krimi geht es normalerweise immer um die Identität der Täter, aber Michaud fasst die Frage weiter. In die Erzählung fügt er wiederholt kurze Passagen mit Bezügen zur jüngeren Geschichte Quebecs ein. Schon auf der ersten Seite, noch bevor die Handlung eingesetzt hat, macht ein namenloser Erzähler Identität zum Thema: «Was ist wirklich wichtig? Was ich bin oder das Bild, das ich von mir habe? Ich bin nichts von dem, was ich geglaubt habe zu sein.»
«Aus den Schatten des Vergessens» ist der erste von Martin Michauds Romanen, der in Deutschland erscheint. Der 50-Jährige hat bislang fünf Krimis um Victor Lessard veröffentlicht. Die nächste deutsche Fassung eines seiner Romane ist für das kommende Frühjahr geplant.
- Martin Michaud: Aus dem Schatten des Vergessens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 640 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-455-01007-7.