Der russische Kultautor Glukhovsky hat im Exil über seine Heimat ein «Tagebuch des Untergangs» geschrieben. Es ist eine düstere Abrechnung.
Der russische Kultautor Dmitry Glukhovsky schildert in seinem neuen Buch «Wir. Tagebuch des Untergangs», wie seine Heimat unter Kremlchef Wladimir Putin auf den Abgrund zusteuert. (Archivbild)
Der russische Kultautor Dmitry Glukhovsky schildert in seinem neuen Buch «Wir. Tagebuch des Untergangs», wie seine Heimat unter Kremlchef Wladimir Putin auf den Abgrund zusteuert. (Archivbild) - Wolfgang Kumm/dpa

Der aus Russland geflohene Autor Dmitry Glukhovsky («Metro», «Outpost») hofft in seinem Exil in Europa auf Widerstand der Menschen gegen Kremlchef Wladimir Putin. «In den vergangenen drei Jahrzehnten vor dem Krieg sind doch Menschen einer Generation herangewachsen, die nach einem normalen, menschlichen, glücklichen und freien Leben streben», sagte der 45-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Dutzende Millionen Russen in den Städten unterstützten den Krieg gegen die Ukraine nicht und hätten durchaus Potenzial für einen Widerstand gegen das System.

Leser kennen den russischen Schriftsteller Glukhovsky vor allem als Meister düsterer und tiefgründiger Endzeitromane («Outpost», «Metro»). Gerade ist sein neues Buch «Wir. Tagebuch eines Untergangs» (Heyne Verlag) erschienen. Darin zeichnet er anhand vieler Ereignisse der vergangenen über zehn Jahre nach, wie sich Russland unter Putin zu einem immer autoritäreren Staat entwickelt hat. Aus seiner Sicht steuert es auf den Abgrund zu. Nötig sei eine Neugründung Russlands als Staat, weil Putin das Land in eine Sackgasse geführt habe, sagt Glukhovsky zur Bucherscheinung.

Entstanden ist eine Art Nachschlagewerk mit pointierten Schilderungen einschneidender Ereignisse, darunter die Vergiftung und der Tod des Kremlgegners Alexej Nawalny, der sich Putin wie kein anderer mutig entgegenstellte und korrupte und mafiose Strukturen aufdeckte. Glukhovskys Texte drehen sich um Staatsdoping nicht nur bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi, um Wahlfälschung und Geschichtsvergessenheit, um Atomdrohungen und fundamentalistische Staatsideologien sowie Repressionen und Angstmache als Regierungsform.

«Manch einer sieht in Russland ein Reich des Bösen», schreibt Glukhovsky. «Ich empfinde es eher als ein Reich des Unglücks, der Missverständnisse und der unerfüllten Hoffnungen, ein Reich mit einem Minderwertigkeitskomplex, mit dem naiven Wunsch, die ganze Welt in Erstaunen zu versetzen, ein Reich der endlosen Selbstzweifel, das sich trotz allem immer wieder beweisen will.»

Kritik an Putins Lügen und Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine

Vor allem aber geht es immer wieder um den zerstörerischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Glukhovsky – wie viele andere Experten auch – so nicht hat kommen sehen. Er erinnert an die vielen Lügen Putins und seines Machtapparats, der immer wieder behauptete, Moskau beginne keinen Krieg. Er beleuchtet die rüpelhafte und hasserfüllte Sprache russischer Diplomaten und die Rolle der als kriminell verschrienen russisch-orthodoxen Kirche. Diese ist nicht nur eine wichtige Machtstütze für Putin, sondern befürwortet auch den Krieg glühend.

«Ihr Ruf ist im postsowjetischen Russland nie wirklich makellos gewesen: Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat Schwerverbrecher heiliggesprochen, dubiose Geschäfte mit zollfrei importiertem Tabak und Alkohol gemacht und Machthaber im Wahlkampf offen unterstützt», schreibt er. «Ich kann nicht an einen Gott glauben, dessen Botschafter auf Erden sturzbesoffen in Sportkabrios und gangstertypischen Offroadern herumfahren, weil ihnen offenbar weder ihr eigenes noch das Leben anderer etwas wert ist.»

Glukhovsky, der wegen politischer Verfolgung durch die russische Willkürjustiz im Exil in der EU lebt, beteuert im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur, er könne sehr wohl trennen zwischen eigenem Schicksal der Flucht und seiner politischen Analyse. «Ich hasse Russland nicht. Ich liebe meine Heimat», sagt er. Klar wird dem Leser dennoch, dass der Schriftsteller selbst am «tragischen Schicksal» des Landes beinahe verzweifeln könnte.

Autor räumt eigene Fehleinschätzungen der Vergangenheit ein

Glukhovsky sieht Russland auf einem Weg hin zu einer totalitären Diktatur wie Nordkorea, räumt aber immer wieder auch ein, dass er sich gelegentlich mit seinen Einschätzungen und Prognosen vertan hat. Er nutzt diesen Sammelband mit vielen, teils auch in deutschen Medien erschienen journalistischen Beiträgen auch, um selbstkritisch eigene Irrtümer einzuordnen – und um Ereignisse noch einmal in einen klareren historischen Kontext zu stellen.

Das «Tagebuch» ist eines von vielen in diesem Herbst veröffentlichten Büchern zu Putin und seinem Krieg. Es bietet Russland-Interessierten wenn auch keine neuen Einblicke, so doch wortgewaltige Schilderungen und tiefe kulturelle Einblicke. Es beschreibt Verbindungen des von Oligarchen gestützten Machtapparats mit der Organisierten Kriminalität. Stark sind die hochemotionalen, teils wütenden Kommentare eines Beobachters, der lange zwischen Russland und der westlichen Welt pendelte – und nun aber nicht mehr in seine Heimat Moskau kann.

Glukhovsky räumt ein, dass die Trennung von der Heimat ein «Loch reisst in Herz und Seele». Es werde schwerer, über Russland zu schreiben. «Man hört auf, mit dem Herzen zu fühlen. Das ist schon früheren Generationen politischer Emigranten so gegangen», sagt er. «Ich habe schon jetzt das Gefühl, dass ich nicht mehr vollständig verstehe, was dort passiert.»

Der Autor wurde im August 2023 in Abwesenheit in einem umstrittenen Verfahren zu acht Jahren Straflager verurteilt, weil er die russische Armee in Misskredit gezogen haben soll. Auch seine Bücher, die Bestseller in Russland waren, sind in seiner Heimat praktisch verboten.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

Alexej NawalnyWladimir PutinBotschafterWahlkampfHerbstMetroKriegStaatTodEU