35 Stunden Woche der SP und ihre Vorgänger seit 1870
Das Wichtigste in Kürze
- Die SP fordert die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
- Der historische Rückblick zeigt: SP-Forderungen waren schon immer extrem.
- Einige sind heute aber erfüllt, andere würde die neuzeitliche SP eher nicht mehr erwähnen.
Der Aufschrei auf bürgerlicher Seite war absehbar, als bekannt wurde, dass die SP die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordern will. Diese Woche hat die SP-Spitze ihr neues Wirtschaftskonzept nun offiziell vorgestellt.
In den vergangenen 150 Jahren hat die SP Schweiz immer wieder radikale Forderungen aufgestellt. Im Rückblick staunt man aus verschiedenen Gründen. Was, es war nötig, einen 10-Stunden-Arbeitstag für Kinder zu fordern?
Sozialismus im Wandel der Zeit
Anderes macht stutzig: Sei es, weil der Sozialismus nicht nur durchschimmert, sondern durchstrahlt. Oder umgekehrt Forderungen, die die SP heute ablehnt, von den Bürgerlichen aber gefordert werden. Vieles aber ist heute selbstverständlich, zum Beispiel ein arbeitsfreier Samstag oder das Frauenstimmrecht.
Der historische Rückblick zeigt aber auch: Die Themen und Prioritäten haben sich verschoben. Und: Wenn das so weitergeht, fordert die SP erst in 350 Jahren die Null-Stunden-Woche.
1870 Die SP wird zwar erst 18 Jahre später offiziell gegründet, das hindert sie aber nicht daran, schon mal ein Programm zu formulieren. Der Staat müsse die Arbeiter schützen, insbesondere auch die «hülflosen Kinder». Der Normalarbeitstag müsse deshalb 10 Stunden betragen ab dem 16. Lebensjahr.
1888 Im Gründungsjahr tönt es sozialistisch: Die Verstaatlichung von Handel, Verkehrswesen, Industrie, Landwirtschaft und Gewerbe wird gefordert, ebenso wie die Volkswahl des Bundesrats (vom Stimmvolk in Form einer SVP-Initiative 2013 abgelehnt). Aber auch die obligatorische Krankenversicherung (erfüllt 1994) und, hört, hört: Achtstundenarbeit, «auch für Frauen.»
1904
«Erst mit der Beseitigung des Kapitalismus
werden Verbrechertum und Prostitution, die in ihm ihren Nährboden finden, als
gesellschaftliche Erscheinungen verschwinden.» Auch revolutionär, damals: «Einführung
gedruckter Stimmzettel und Aufstellung von Wahlurnen auch am Samstagabend.»
Gleichstellung der Frau mit dem Manne, oder zumindest für den Anfang mal: bei
der Wahl in die Schulbehörden. Krass dagegen dies: «Einführung des
Handarbeitsunterrichts für beide Geschlechter.»
Der 8-Stunden-Tag bleibt Fernziel, man wäre schon froh um «zunächst 10 Stunden»
und «Freigabe des Samstag Nachmittages».
1920 Energisch und halbherzig zugleich: Die SP will «Die Diktatur des Proletariats (als Übergangsphase)». Zudem: «Energischer Kampf gegen die geistige Überlastung der Schüler und Förderung ihrer körperlichen Erziehung», eine AHV (erfüllt 1947) sowie die 48-Stunden-Woche.
1935 Die Themen «In dieser Niedergangsperiode» sind weiterhin die Gleichberechtigung, Ferien von einer bis drei Wochen und nach wie vor die 48-Stunden-Woche. Da hilft nur eins: «Übernahme der politischen Macht durch das werktätige Volk.»
1959 Verstaatlichung des öffentlichen Verkehrs, UNO-Beitritt (erfüllt 2002) und gebetsmühlenartig immer wieder dies: «Die politischen Rechte dürfen den Frauen nicht länger vorenthalten werden» (erfüllt 1971). Aber auch eine heute eher libertär anmutende Forderung: «Die dem Staat übertragenen Aufgaben sollen möglichst rationell und unbürokratisch durchgeführt werden.» Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass wir die SP möglicherweise manchmal falsch verstehen. Es geht gar nicht immer um den bösen Kapitalismus. Sondern nämlich: «Eine gesunde Lebensführung durch Überwindung des Alkoholismus.»
1982 Auch diese SP-Forderung mutet heute etwa ironisch an: «Jedes Volk hat ein Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung.» Erfüllt sind hingegen die dreisten Forderungen nach einem AKW-Moratorium (1990, definitv 2016) und einem Zivildienst für Militärdienstverweigerer (1992). Die SP will aber auch die ländliche Volkskultur fördern, namentlich das Volkstheater, Musikgruppen aller Art und «der Chorgesang». Jolidu, duliöh? Ironisch dann wieder die selbstreflexive Erkenntnis: «Mit einem Grundsatzprogramm macht man noch keine Politik.»
2010 Radikal, radikaler, am radikalsten: Stimmrechtsalter 16, 2000-Watt-Gesellschaft, Abschaffung der Armee und EU-Beitritt. Und dann: «Es braucht Kostenwahrheit, auch im Flugverkehr.» Davon hätte ja 1870 niemand zu träumen gewagt.