Claude Longchamp: Mikado-Situation und Vorteil für Grüne
Das Wichtigste in Kürze
- Regula Rytz habe ihre Niederlage zum Teil selbst zu verantworten, sagt Claude Longchamp.
- Der Politologe stellt aber auch der FDP ein schlechtes Zeugnis aus.
- Jetzt habe man eine Mikado-Situation und einen Vorteil für die Grünen in der Opfer-Rolle.
Die Niederlage war absehbar, nur rund ein Drittel der Parlamentarier stimmte für die Grüne Regula Rytz als Bundesrätin. Trotzdem sei die Kandidatur richtig gewesen, sagt Politologe Claude Longchamp: «Nach dem phänomenalen Wahlsieg wäre jede Nicht-Kandidatur nicht verstanden worden.» Problematisch sei sie trotzdem gewesen.
Regula Rytz mit zu viel Engagement
Problematisch, weil Regula Rytz lange noch im Ständeratswahlkampf absorbiert war. Und weil sie dann ganz alleine vorpreschte. «Ein Zweierticket mit jemandem aus der Mitte und jemandem von Links hätte anders ausgesehen, so Longchamp.
Zum Beispiel mit dem ehemaligen Berner Regierungsrat und Geheimfavoriten Bernhard Pulver. Bei der Einzelkandidatin Rytz sei dagegen der Eindruck entstanden, «sie will durch alle Böden durch.»
Das habe im bürgerlichen Lager Stimmen gekostet. So gesehen sei der Tag nicht überraschend verlaufen, aber die Lehren für ein nächstes Mal seien klar. «Erste Voraussetzung ist, dass sie den Wahlsieg wiederholen, zweite Voraussetzung ist, sie müssen die CVP überzeugen», sagt Longchamp.
Grüne haben Chancen auf erneuten Wahlsieg erhöht
Ironischerweise sei die heutige Niederlage wohl gerade für einen zweiten Anlauf von Vorteil. «Die Grünen haben die Chance erhöht, dass sie den Wahlsieg wiederholen können. Denn im Bundesrat wäre das viel, viel schwieriger gewesen.» Jetzt aber könnten sich die Grünen als Opfer von Machtspielchen präsentieren, als Ausgeschlossene.
Wenn das den Grünen gelingen sollte und die Grünen 2023 erneut gut – oder gar besser – abschneiden, sei vieles möglich. «Wer weiss, wie es dann aussieht! Die Machtverteilung ist dann vielleicht grad umgekehrt», orakelt Longchamp. Denn jetzt bleibe wohl wegen der «Mikado-Situation» vier Jahre alles beim alten: Wer sich zuerst bewegt, verliert.
«Innersanktgallische Abrechnung» und schwache FDP
Für Getuschel gesorgt in der Wandelhalle haben heute Vormittag aber auch die einzelnen Wahlergebnisse. Die meisten Bundesräte wurden mit glanzvollen, rekordverdächtigen Resultaten wiedergewählt. Ausser die FDP-ler: Natürlich der von den Grünen angegriffene Ignazio Cassis, aber auch Karin Keller-Sutter, die «nur» 169 Stimmen erhielt.
Das sei wohl einerseits auf eine «Innersanktgallische Abrechnung» zurückzuführen, analysiert Longchamp. Denn die meisten anderen Stimmen entfielen bei «KKS» auf Mit-Sanktgaller und FDP-Kollege Marcel Dobler. Dieser hatte seine Ständeratskandidatur zugunsten der SVP zurückgezogen. Ganz im Gegensatz zu Keller-Sutter, die immer zum SP-Kandidaten Paul Rechsteiner gehalten hatte – gegen Toni Brunner.
Andererseits störe die SVP sicher auch, dass Keller-Sutter den Lead bei der Begrenzungsinitiative wolle. «Das ist ein Angriff auf die SVP, und dass die Stimmen für Herrn Dobler aus der SVP kamen, ist kaum anzuzweifeln.»
Das zeige aber auch, dass die Position der FDP im Bundesrat nicht unbestritten sei. «Sie muss damit rechnen, dass sie von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Gründen auch in Zukunft angegriffen wird.»