Coronavirus: Verschwörer wedeln mit Bundesverfassung
Gegner der Corona-Massnahmen beschwören die Bundesverfassung und zeigen sie gerne in die Kamera. Ein Phänomen, das man vor allem aus den USA kennt.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein US-Phänomen wird im Zuge der Corona-Krise hierzulande sichtbarer.
- Corona-Kritiker berufen sich oft auf die Bundesverfassung und tragen diese bei sich.
- Ähnliches kennt man in den USA, wo sich eine «zivile Religion» etabliert hat.
Einige verfassungsmässige Rechte sind während der Coronavirus-Pandemie aufgehoben oder eingeschränkt. Dazu gehören die Versammlungsfreiheit und andere politische Rechte. Aber auch das Recht und die Pflicht, um nicht zu sagen den Zwang, die Kinder in die Schule zu schicken.
Obwohl gesetzlich klar geregelt ist, wann und wie lange Verfassungsbestimmungen aufgehoben werden können, sehen Corona-Kritiker die Verfassung in Gefahr. Die gedruckte Ausgabe halten sie mit Stolz in Händen, hängen sie um den Hals, zeigen sie warnend in die Kamera. Es ist ihr Leitfaden für alle Fragen, der Fels in der Brandung, das, woran man sich in Krisen klammern kann.
Bundesverfassung als Heilige Schrift
Sei es an der Demonstration auf dem Sechseläutenplatz, in Video-Blogs oder einer inszenierten Andacht: Die Verfassung ist dabei. Sie ist das Kernargument, der Trumpf, der alle wissenschaftlichen Daten, Präventionsmassnahmen und Warnungen aussticht. Es steht in der Schweizer Bundesverfassung, diesem in rot gehaltenen, nicht einmal sehr nobel aussehenden Heft. Dann kann es doch nicht falsch sein?
Ein Phänomen, das sich nicht auf die Schweiz beschränkt. In Deutschland wird das «Grundgesetz», wie es dort heisst, beschworen. In den USA die «Constitution», die die Gründerväter im 18. Jahrhundert formulierten. Viele, auch Politiker, tragen eine Taschen-Ausgabe dieser ewiggültigen Zeilen stets auf sich. Man wird an religiöse Texte gemahnt, die Gründerväter werden zu erleuchteten Weisen verklärt.
«Konstitutioneller Glaube» und «zivile Religion»
Insbesondere in den USA muss die Verfassung als Ersatz oder Ergänzung zur Religion herhalten. Dass es einen «konstitutionellen Glauben» gibt, wird nicht behauptet, sondern als zentrales Element der Gesellschaft betrachtet. Diese «zivile Religion» soll die Bevölkerung – analog zur kirchlichen Religion – zusammenhalten. Oft zeigt sich aber der gegenteilige Effekt.
So haben Juristen der Columbia University Reden von Demokraten und Republikanern verglichen, in denen die Verfassung erwähnt wird. Beziehungsweise vergleichen lassen: Sie haben die Texte aus fast 150 Jahren durch den Computer gejagt.
Gelingt es der Maschine, aufgrund des Inhalts die Partei des Redners zu bestimmen? Ab 1980 immer besser, in den letzten Jahren lag die Trefferquote bei 80 Prozent. Ganz so als ob von zwei verschiedenen Verfassungen die Rede wäre, so die Forscher.
«Originalismus» oder «lebendige Verfassung»?
Eine Erklärung dafür liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung der Verfassung in den USA. Ein Aspekt, der sich eigentlich nicht auf die Schweiz übertragen lässt und das Überschwappen der Verfassungs-Religion nach Europa etwas irritierend macht.
«Originalisten» sehen die Verfassung als starres, aus der Entstehungszeit heraus zu interpretierendes Regelwerk. Man kann das als Parallele zu den orthodoxen Kirchen sehen. In dem Sinne ganz «Strenggläubige» gehen dann soweit, dass die «wahre Verfassung» Bürgerrechte nur für Weisse vorsieht.
Die Verfechter einer «lebendigen Verfassung» wollen die über 200-jährige US-Verfassung flexibel auslegen. Sie hinterfragen, ob die Verfassung bereits perfekt sei oder vielmehr dem Zeitgeist angepasst werden sollte.
Lebendige Bundesverfassung
Während die Demonstranten gegen die Corona-Massnahmen recht haben, dass die Verfassung teilweise ausser Kraft ist, ist ihr Verve im Vergleich zu den US-Vorbildern etwas seltsam. Wenn ein US-Traditionalist mahnt, «schon Gründervater Benjamin Franklin hat in die Verfassung geschrieben», wirkt dies glaubhaft. Es ist immerhin über 200 Jahre her und wohlüberlegte Zitate intelligenter Menschen soll man sich zu Herze nehmen.
Die Schweizer Bundesverfassung kann aber fast nicht originalistisch interpretiert werden, denn lebendiger geht es fast nicht. Während es extrem schwierig ist, die US-Verfassung zu ändern, wurde die Bundesverfassung 1999 sogar totalrevidiert. Seither wurden fast drei Dutzend Artikel erneut geändert oder ergänzt.
Die Haltung, «wir wollen das, weil es schon immer so in der Bundeverfassung stand» passt nicht zur Schweiz. Bestimmungen der Bundesverfassung können jederzeit umgestossen werden. Allerdings nicht vom Bundesrat und nicht einmal vom Parlament. Jede Anpassung kam und kommt zwingend vors Volk.