Martin Ackermann zum Rücktritt über Impfung und Fehlprognose
Die Normalisierungsphase kommt, Taskforce-Präsident Martin Ackermann tritt ab. Im Interview spricht er über Fehlprognosen, schlaflose Nächte und Lockerungen.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Bundesrat hat die Normalisierungsphase per sofort eingeläutet.
- Wie geplant endet damit auch das Taskforce-Präsidium von Martin Ackermann.
- Im Abschieds-Interview spricht der Forscher offen wie nie über ein turbulentes Jahr.
Nau.ch: Herr Ackermann, Sie geben das Taskforce-Präsidium bald ab. An welchen Moment ihrer einjährigen Amtszeit werden Sie sich am meisten erinnern?
Martin Ackermann: Es gab für mich tatsächlich ein Schlüsselerlebnis Ende 2020. Erstmals gab es damals Studien, wonach die mRNA-Impfstoffe hervorragend wirken. Das waren inmitten einer sehr schwierigen Zeit fantastische Nachrichten. Wir hatten plötzlich einen Ausweg, ich sah förmlich das Licht am Ende des Tunnels.
Nau.ch: Sie standen und stehen seit langem stark in der Öffentlichkeit. Konnten Sie mit diesem Druck umgehen oder hatten Sie auch schlaflose Nächte?
Martin Ackermann: So etwas geht an niemandem spurlos vorbei. Ich war tatsächlich auch in der Nacht oft wach und hatte Mühe, einzuschlafen. Vor allem im Winter wussten wir nicht, ob wir die Fallzahlen runterbringen und eine Überlastung des Gesundheitswesens verhindern können. Diese Anspannung haben wohl auch mein Umfeld und Familie mitbekommen.
Nau.ch: Sie wurden auch harsch kritisiert – vor allem für Horror-Szenarien, die nie eintrafen. Wie erklären Sie sich heute die Fehlprognosen im Winter und im April?
Martin Ackermann: Ich gebe es offen zu: Im April war ich brutal überrascht. Die Fallzahlen gingen hoch, dazu kamen Lockerungen. Wir gingen davon aus, dass die Fallzahlen weiter steigen. Doch wir lagen komplett falsch. Wir haben unterschätzt, dass es in einer Pandemie Momente gibt, in denen es sehr schwierig ist, die weiteren Entwicklungen abzuschätzen. Manches haben wir offenbar noch immer nicht verstanden.
Nau.ch: Und im Winter?
Martin Ackermann: Da war die Situation anders. Die Zahl der Neuinfektionen und Spitalanweisungen verdoppelte sich auf hohem Niveau wöchentlich. Wir schauten voraus und sagten: Wenn es so weitergeht, wird es kritisch im Gesundheitswesen. Zum Glück liess sich das Schlimmste verhindern, doch viele Menschen sind damals gestorben.
Nau.ch: Hat die Wissenschaft durch die Fehlprognose im April an Glaubwürdigkeit eingebüsst?
Martin Ackermann: Ich hoffe es nicht. Die Menschen haben durch Corona auch viel über Wissenschaft gelernt: Bei einem unbekannten Virus gibt es auch wissenschaftliche Unsicherheiten. Wir hätten das aber jeweils noch klarer kommunizieren müssen. Das ist sicher ein Learning aus den letzten Monaten.
Nau.ch: Was ist denn nun ihre aktuelle Fallzahl-Prognose für den Herbst?
Martin Ackermann: Eine «Prognose» ist schwierig. Was aber feststeht: Wer sich nicht impfen lässt, wird sich wohl früher oder später anstecken. Es gibt drei Faktoren, welche den Verlauf der Epidemie beeinflussen und unsicher sind. Erstens wissen wir nicht, wie viele Personen sich noch impfen lassen. Zweitens ist unklar, wie viel ansteckender die Delta-Variante wirklich ist. Und drittens weiss niemand, wie sich die Menschen in der nächsten Zeit verhalten werden.
Nau.ch: Könnten steigende Fallzahlen zu einer höheren Impfbereitschaft und mehr Vorsicht führen?
Martin Ackermann: Ja, diesen Eindruck habe ich tatsächlich. Es gibt Hinweise in diese Richtung, allerdings sind diese nicht abschliessend wissenschaftlich bewiesen.
Nau.ch: Die Fallzahlen steigen zwar seit Wochen, doch die Spitäler sind weit weg von der Belastungsgrenze. Wie relevant sind diese täglichen Fallzahlen-Meldungen überhaupt noch?
Martin Ackermann: Es ist wichtig vorauszublicken, deshalb bleiben Fallzahlen eine wichtige Kenngrösse. Sie stehen am Anfang von allem. Ein Teil der Infizierten muss später ins Spital. Aber: Die Inzidenz hat sicher nicht mehr gleiche Bedeutung wie letztes Jahr. So müssen deutlich weniger der Infizierten ins Spital als letzten Winter. Es stecken sich vor allem jüngere Personen an, weil die Risikogruppen eine hohe Impfquote aufweisen.
Nau.ch: Viele Ihrer Ex-Kollegen – etwa Marcel Tanner oder Marcel Salathé – drängen auf Lockerungen. Ist jetzt der richtige Moment dazu?
Martin Ackermann: Wir alle wollen zurück zur Normalität. Aber: Haben wir wirklich alle erreicht, die sich impfen lassen wollen?
Nau.ch: Sie sagten kürzlich, dass die Pandemie bald vorbei wäre, wenn sich alle impfen liessen. Das wurde teilweise als Impfpflicht-Forderung aufgefasst. Wäre das zumindest in gewissen Bereichen zielführend, etwa im Gesundheitswesen?
Martin Ackermann: Nein. Ich wollte bloss sagen, dass wir es in der Hand haben, wie es weitergeht. Letztes Jahr waren wir quasi zur Passivität verdammt. Wir mussten Abstand halten, auf vieles verzichten. Das ist nun nicht mehr so. Wir können aktiv etwas tun, um rasch aus dieser Krise rauszukommen – nämlich uns impfen zu lassen. Das sollten sich vor allem die Gegner der Massnahmen zu Herzen nehmen.
Nau.ch: Sie würden gerne impf-skeptische Mitbürger direkt ansprechen, was wegen des Datenschutzes schwierig ist. Plädieren Sie hier für gesetzliche Anpassungen, damit das möglich wird?
Martin Ackermann: Wir haben geschaut, welche Länder hohe Impfquote haben. Das sind alles Länder, welche die ungeimpften Menschen direkt ansprachen. In den USA gingen freiwillige Helfer von Haus zu Haus und boten den Menschen Informationen an. Das wäre auch in der Schweiz ein durchaus gangbarer Weg.
Nau.ch: Seit kurzem publiziert das BAG Daten zu Impfdurchbrüchen. Wie schätzen Sie diese neuen Zahlen, gerade angesichts der Delta-Variante, ein?
Martin Ackermann: Die Impfstoffe schützen gut vor schweren Krankheitsverläufen, das ist die zentrale Erkenntnis. Es gibt allerdings Hinweise, dass die Delta-Variante für mehr Ansteckungen bei Geimpften sorgt. Die Übertragung ist jedoch sicher seltener, weil sich Geimpfte weniger häufig anstecken.
Nau.ch: Moderna und Pfizer plädieren für eine dritte Impfdosis, das BAG wartet noch zu. Würde dieser «Booster» die Pandemie beenden?
Martin Ackermann: Zentral bleibt, dass ungeimpfte Menschen die erste und zweite Dosis erhalten. Aber klar: Für einen Teil der Schweizerinnen und Schweizer könnte eine dritte Dosis im Herbst zum Thema werden. Es ist auch gut denkbar, dass die Impfstoffe bereits im Hinblick auf den Winter angepasst werden. Dank der mRNA-Technologie ist das sehr rasch möglich.
Nau.ch: Seit kurzem ist auch Moderna für die Impfung ab 12 Jahren zugelassen. Empfehlen sie Teenagern die Impfung?
Martin Ackermann: Eine Empfehlung der Impfkommission wird nur ausgesprochen, wenn diese klare Vorteile bringt. Das ist meiner Meinung nach hier der Fall. Denn Nicht-Geimpfte werden sich infizieren. Und auch junge Menschen können sehr unangenehme Krankheitsverläufe haben. Dass nun auch der Moderna-Impfstoff zugelassen ist, wird das Prozedere sicher vereinfachen.
Nau.ch: Sind längerfristige Beschwerden, also Fälle von LongCovid, auch bei Kindern bereits aufgetaucht?
Martin Ackermann: Da weiss man heute noch nicht so viel darüber. Es ist aber ein Aspekt, den man genau beobachten muss. Regelmässiges Testen und CO2-Sensoren in den Klassenzimmer können helfen, die Ansteckungen tief zu halten.
Nau.ch: Wie funktioniert die Taskforce aktuell und künftig als Gremium? Gibt es regelmässige Treffen?
Martin Ackermann: Mit Ausnahme einiger Mitglieder, die ich persönlich getroffen habe, haben wir uns im Gremium nur virtuell getroffen. Zweimal wöchentlich finden virtuelle Diskussionen statt. Dabei werden die neusten Erkenntnisse analysiert und daraus Dokumente für Behörden und die Öffentlichkeit erstellt. Dabei sind wir mit Ethikerinnen und Wirtschaftswissenschaftern sehr interdisziplinär aufgestellt.
Nau.ch: Gibt es bei solchen Diskussionen auch Streit?
Martin Ackermann: Teilweise existiert ein wissenschaftlicher Konsens, aber in manchen Fragen sind nicht alle gleicher Meinung. Das bringen wir dann mit zurückhaltenden Formulierungen auch zum Ausdruck. Persönlich konnte ich immer hinter dem stehen, was ich öffentlich gesagt habe.
Nau.ch: Wie lange braucht es denn die Taskforce noch?
Martin Ackermann: Unser Ziel ist natürlich eine baldige Auflösung. Das würde bedeuten, dass die Krise überstanden ist. Solange das Gesundheitssystem bedroht bleibt, sind wir da. Wir erwarten, dass das Virus nicht verschwindet. Es werden noch lange Leute erkranken und sterben. Im Herbst und Winter dürften die Ansteckungen zunehmen. Aber bald, hoffentlich im Frühling, sollten wir über den Berg sein.