Neurologin warnt vor Hunderttausenden Long-Covid-Fällen
Das Wichtigste in Kürze
- Kopfschmerzen, Atemnot oder Depression: Fälle mit Long Covid häufen sich.
- Neurologin Maja Strasser rechnet mit Hunderttausenden Betroffenen, darunter 30'000 Kinder.
- Die Politik müsse handeln und die Fallzahlen klein halten, sonst drohe eine Katastrophe.
Ob man die Krankheit nun Long Covid oder Post Covid nennt, ist Neurologin Maja Strasser weniger wichtig. Bei SARS, quasi dem Vorläufer von Covid-19, nennt man diese Patienten «Long-haulers», Langstreckler. Und von Sars wisse man, dass ein Teil sich nie erhole, erzählt Strasser.
Während der SARS-Pandemie von 2002/2003 registrierte man rund 8000 Infizierte. Bei SARS-CoV-2, oder eben Covid-19, sind es allein in der Schweiz schon über 50mal mehr. «Das hat das Potenzial zur nächsten gesundheitspolitischen Katastrophe», warnt Strasser, und sucht deshalb den Kontakt zur Politik. Sie rechnet mit Hunderttausenden, die an Long Covid leiden werden, «davon vorsichtig geschätzt 30'000 Kinder».
«Sicher nicht psychosomatisch»
Strasser befürchtet, dass diese Menschen als psychosomatisch abgestempelt werden und durch die Maschen fallen. An ihre neurologische Praxis würden immer mehr Leute zugewiesen, die nach einer Covid-Erkrankung langanhaltende Symptome haben. Personen, die offiziell «genesen» sind; eine Bezeichnung, die Strasser nicht gefällt: «Eigentlich sollte es heissen ‹überlebt›.»
Was das Coronavirus im Körper alles auszulösen vermag, da lernt die Wissenschaft laufend dazu. Eins sei ihr aber klar, so Strasser: «Es ist ganz sicher nicht psychosomatisch.» Sie verweist auf Untersuchungen mit Positronen-Emissions-Tomographen (PET). Mit diesen habe man schwere Veränderungen des Gehirnstoffwechsels bei Erwachsenen und Kindern mit Long Covid nachgewiesen.
Die Symptome sind so zahlreich wie verschieden. «Das geht von chronischen schweren Kopfschmerzen über invalidisierende Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen bis zu einer Patientin mit Sturzattacken.» Strasser erzählt von Atemlosigkeit, Schlafstörungen, Ausschlägen, Depression, und Gehörlosigkeit. Und von verzweifelten Patienten: «Wenn man wirklich krass Long Covid hat, dann ist das ein Albtraum.»
Manchmal wird es besser, manchmal nicht
Eine 60-Jährige habe über Monate hinweg schwerste Darmblutungen gehabt. Eine junge Erwachsene litt unter anhaltender Erschöpfung, alle zehn Minuten leere Batterien, Konzentrationsstörungen, fast wie Demenz: «Das ist beängstigend.»
Eine 20-Jährige Jus-Studentin, «blitzgescheit», litt an Fieber, Kopfweh und wusste im Supermarkt plötzlich nicht mehr, wie man Gemüse abwiegt. «Bei einigen wird es nach ein paar Wochen besser», erzählt Strasser. Bei der Jus-Studentin war der Spuk bald vorbei, «aber bei anderen ist es irreversibel».
Werden die Spätfolgen einer Covid-Erkrankung von der Politik zu wenig ernst genommen?
Mit Folgen: Eine Patientin, die berufsbegleitend eine Weiterbildung angefangen hatte, musste diese abbrechen. Oder der fitte, sportliche Mann Anfang 30, acht Monate nach Covid-19: «Der lag bei mir auf dem Schragen und hat nur noch gekeucht.»
Post Covid fast so häufig wie Migräne
Und täglich werden es mehr, veranschlagt Strasser aufgrund der Hochrechnung von Professor Milo Puhan, der bei der Corona-Immunitas-Studie mitarbeitet. Puhan rechnete im Februar 2021 inklusive Dunkelziffer mit 1,3 bis 1,5 Millionen Infizierten. «Also 250’000 bis 300’000 Long Covid Fällen, nach der fünften Welle werden es 2022 mehrere Hunderttausend sein.»
Das Post-Covid-Syndrom werde in ihrer Praxis dann wohl unter den Top-5-Diagnosen sein, schätzt Strasser, also fast so häufig wie Migräne. Ein steiler Aufstieg in nur zwei Jahren – immerhin habe jede siebte Frau und jeder vierzehnte Mann Migräne. «Allein dadurch entstehen Milliardenschäden für die Volkswirtschaft», so Strasser. «Wenn jetzt Hunderttausende zum Teil wirklich invalidisierend erkranken, ist das eine Riesenbelastung.»
Vom Staat im Stich gelassen
Maja Strasser will verhindern, dass der Staat die Menschen zuerst zu wenig schützt und danach auch noch im Stich lässt. Deshalb sucht sie den Kontakt zu Gesundheitspolitikerinnen wie SP-Nationalrätin Yvonne Feri. Diese bestätigt auf Anfrage, die Gesundheitskommission werde sich damit befassen und sie wolle sich mit Strasser gerne austauschen. Beides aber erst im neuen Jahr.
Maja Strasser aber stört sich bereits jetzt und heute an der Schweizer Pandemie-Bewältigung. «Ich bin empört, dass man die Pandemie jetzt einfach so krachen lässt.» Sie fordert Massnahmen, um die Fallzahlen runterzubringen. «Das wäre besser für die Volksgesundheit, die Wirtschaft, hätte weniger Einschränkungen zur Folge und es würden keine neuen Mutationen auftreten.»
«Man redet von Intensivstationen und Toten…»
«Tiefe Zahlen sind auch leichter tief zu behalten», betont Strasser. Schon im Sommer 2020 hätte man die Zahlen tief behalten müssen, argumentiert sie. «Dann wären wir mit insgesamt weit weniger Schutzmassnahmen um Welten besser durch den Winter 20/21 gekommen.» In 23 Jahren Berufserfahrungen habe sie es noch nie erlebt, dass es ihren Patienten so schlecht ging wie letzten Winter.
«Physisch, psychisch und wirtschaftlich. Man redet von Intensivstationen und Toten. Aber es ist genauso wichtig, dass man Long Covid ernst nimmt.»
Nicht nur aus gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Gründen: Es wäre auch, sozusagen, intelligenter. «Eine britische Studie hat ergeben, dass Personen mit Long Covid einen um acht Punkte verminderten IQ haben.»