Selenskyj und die Friedenskonferenz: Was ist noch neutral?
Die Schweiz soll ein Friedensgipfel organisieren, der ukrainische Präsident besucht das Bundeshaus. Die letzten Tage haben die Neutralitätsdebatte neu entfacht.
Das Wichtigste in Kürze
- Kurz vor dem WEF war Wolodymyr Selenskyj zu Besuch in Bern.
- Danach kündigte Bundespräsidentin Viola Amherd an, eine Friedenskonferenz zu organisieren.
- Ist das noch neutral? Die Debatte ist erneut entfacht.
Am Montag, 15. Januar 2024, stoppte Wolodymyr Selenskyj auf dem Weg in das Weltwirtschaftsforum in Davos GR noch in Bern. Es war der erste Besuch des ukrainischen Präsidenten in der Bundesstadt der Schweiz.
Gegen Tagesende wird die grosse Meldung verkündet: Bundespräsidentin Viola Amherd und Aussenminister Ignazio Cassis kündigen an, auf die Bitte von Selenskyj eine Friedenskonferenz organisieren zu wollen. Daran werde Russland jedoch wohl nicht teilnehmen, weil Länder eingeladen würden, welche die Souveränität der Ukraine respektierten.
Auffällig abwesend waren aber Vertretende der SVP. Diese boykottierten den hohen Besuch aus der Ukraine. Aus Neutralitätsgründen, argumentieren die meisten. Auch die Friedenskonferenz sieht SVP-Aussenpolitiker Franz Grüter sehr kritisch.
Russland und SVP sind einer Meinung
Vor allem, weil Russland allem Anschein nach fehlen werde. Amherd und Cassis hätten sich nicht vorbehaltlos hinter Selenskyjs Plan stellen dürfen, so Grüter zum «Tages-Anzeiger». So habe die Schweiz «vorzeitig Partei ergriffen», erklärt der Luzerner, was den Gipfel zu einer Farce verkommen lasse.
Die russische Botschaft in Bern schreibt in ihrem offiziellen Statement zum Besuch von Selenskyj Ähnliches: Die Schweiz ziehe nur «die ukrainische Position» in Betracht, «von echter Neutralität» könne nicht die Rede sein. Ein russischer Diplomat spottete zudem auf «X», die Schweiz lebe in ihrer eigenen «Bubble».
Doch gemäss Sacha Zala war Neutralität-technisch alles in Ordnung am Montag, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet. Zala ist Historiker und Experte im Bereich der Schweizer Diplomatie. Neutralität, sagt er, sei keine Handlungsanleitung, sondern «höchstens eine Rechtfertigungsstrategie».
Flexible Politik
Grundsätzlich werde von einem neutralen Land völkerrechtlich gesehen nur verlangt, dass es sich nicht an Kriegen beteilige. Die Schweiz könne als souveräner Staat eigentlich sonst alles machen, was sie wolle. «Auch im Ukraine-Konflikt», fügt Zala hinzu.
Historisch habe die Schweiz ihre Neutralitätspolitik hochgradig flexibel gestaltet: «Dadurch hat sie sich erfolgreich durchgewurstelt», so der Historiker. Und auch jetzt ergreife die Regierung bloss eine Gelegenheit, ihre Guten Dienste anbieten zu können.
Andere Personen, wie etwa der ehemalige Diplomat Daniel Woker, finden, die Schweiz müsse sich positionieren. Weil eben Russland auf krasser Weise gegen die Uno-Charta verstosse. Dem pflichtet SP-Co-Präsidentin gegenüber der Zeitung Mattea Meyer bei: «Wir haben uns von Anfang an auf die Seite des Völkerrechts gestellt.»
Marco Jorio, Neutralitätshistoriker, hat aber auch Kritik parat. Nur nicht dieselbe wie die SVP: Er findet, die inszenierte Nähe zur Ukraine sei unehrlich, weil die Schweiz «dringend notwendige Waffenhilfe» verweigere. Damit helfe der Bund dem Angreifer und behandle Opfer und Täter gleich. «Das ist das Gegenteil von neutral», sagt Jorio.