Walter Thurnherr: Der mächtige Mann, den keiner kennt
Er weiss alles, kritisiert offen seinen Chef und sitzt in der Machtzentrale in Bundesbern. Aber er will nur spielen.
Das Wichtigste in Kürze
- Er gilt als «8. Bundesrat», bleibt aber stets im Hintergrund: Walter Thurnherr.
- Er ist ein Meister der Ablenkung und sagt dennoch ziemlich kontroverse Dinge.
- Sollten wir uns Sorgen machen? Ein Kommentar.
Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht um Bundeskanzler Walter Thurnherr. Wenn Sie jetzt «der was – und wer?» sagen: Gratulation. Sie sind ein ehrlicher Mensch.
Es ist wahr: Die Schweiz hat einen Bundeskanzler. Er heisst fast genau nicht so wie der ehemalige Schnurri der Nation und ist seit über sieben Jahren im Amt. Dass sein Amt kaum Beachtung findet, liegt nicht an ihm: Das war schon bei seinen Vorgängerinnen und Vorgängern so. Obwohl die Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen jeweils die höchsten Beamten der Schweiz sind und als «achte Bundesräte» gelten.
Walter Thurnherr macht sich unsichtbar
Thurnherr hat aber das seltene Talent, selbst dann noch unbemerkt zu bleiben, wenn er eigentlich Ausrufezeichen setzt. Wie zum Beispiel schlicht Bundeskanzler zu sein. Googelt man ihn heute, schlägt einem die Suchmaschine vor: «Ehemaliger Stellvertretender Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten der Sc…». Und dann ist einem auch schon das Gesicht eingeschlafen – Bundeskanzler Thurnherr gibt es gar nicht.
Oder wie heute, als er in der NZZ unter anderem sinngemäss sagt: Die Schweizer Aussenpolitik ist für die Füchse. Ein paar Psüechli und zwei Tweets pro Woche reiche nicht. Der Bundeskanzler macht sich über den Aussenminister und Bundespräsidenten lustig. Der damit ausgelöste Polit-Tsunami lässt sich dann aber mit einem Taschentuch trockenlegen.
Walter Thurnherr hat die Macht
Dabei ist das längst nicht die einzige bemerkenswerte Aussage in besagtem Interview. So kritisiert er die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, die Klima-Massnahmen des Bundes, die Krisen-Prävention, die Ukraine-Politik und die Schweiz im Offside. Aber Thurnherr verpackt dies gekonnt in Dürrenmatt-Zitate und Referenzen an 1940 und 1848. Dabei ist er weder Germanist noch Historiker.
Try!😉 pic.twitter.com/fDp0OeKTVB
— Walter Thurnherr (@WThurnherr) December 17, 2019
Sondern, viel gefährlicher – das wusste schon Dürrenmatt – ein Physiker. Als solcher setzt er regelmässig das Parlament ausser Gefecht. Verzweifelte Nationalrätinnen rätseln stundenlang über Thurnherrs neusten Tweet, eine vermeintlich einfache Geometrie-Aufgabe, statt das Volk zu vertreten. «Ich glaub das gibt zwei» – «ich hab anderthalb», «nein, ich hab es nachgerechnet, es sind 1,414» – «ist das nicht dasselbe?»
Zum Glück nimmt den keiner ernst
Überhaupt twittert Walter Thurnherr bevorzugt mathematische Rätsel oder wissenschaftliche Artikel über Quantencomputer, Astronomie und künstliche Intelligenz. Oder er retweetet historische Anekdoten des Nobel-Komitees. Gekonnte Ablenkung, genau so wie der Einstieg in seine Web-Präsenz beim Bund: «Ich, achter Bundesrat? Ach was, ich tu doch nur so ein paar Sachen organisieren…».
Sollte man vielleicht vermehrt ein Auge auf den kleinen Mann haben (die Google-Suche nach seiner Körpergrösse scheint beliebt zu sein)? Zieht da einer die Fäden im Hintergrund und ist ganz zufrieden, dass alle anderen mit sich selbst beschäftigt sind? Möglich – aber dann müsste man auch zur Kenntnis nehmen, was für Reden Thurnherr landauf, landab so hält.
Zum Beispiel diejenige an der Maturfeier der Kantonsschule Glarus letzten Sommer zum Thema «Stolz furzen». Oh, guck, ein Quadrat steht im Winkel von 60 Grad in einem anderen Quadrat und die Seitenlänge ist die Hälfte von der Distanz zwischen… wo waren wir noch gleich?
„Fart proudly!“ - meine Rede zur Matura-Feier der Kantonsschule Glarus. https://t.co/3U06JKjseK
— Walter Thurnherr (@WThurnherr) July 1, 2022