Wie viele Akademiker im neuen Parlament?
Schreibtischtäter und Gstudierte: Sie sind schuld an realitätsfremden Entscheiden im Parlament. Aber wer lästert denn da? Etwa… Gstudierte?
Das Wichtigste in Kürze
- Im Parlament hat es sehr viele Akademiker.
- Sehr, sehr viele. Sogar mehr als im Stimmvolk.
- Soll man über sie schimpfen? Ein Kommentar und eine Statistik.
«Die in Bern oben», die haben ja sowieso keine Ahnung vom Leben da draussen – sagt man, wenn mal wieder ein Entscheid gefallen ist, der nicht nachvollziehbar scheint. Die «Verakademisierung» wird beklagt; Schreibtischtäter ohne Erfahrung in der freien Wildbahn müssen als Sündenböcke herhalten. Gstudierte wissen eben nicht, was im realen Leben abgeht.
Überdurchschnittlich viele Akademiker im Parlament
Sogar Politikerinnen und Politiker selbst stimmen mit ein und wollen die akademischen Mitmenschen massregeln. So wollen die Grünliberalen die gebildete Bevölkerung länger arbeiten lassen. Die Volkspartei ihrerseits findet sowieso, nur wer schon mal eine Kuh gemolken hat, darf auch mitreden. Zum Beispiel über praxisnahe Themen wie die «ÖLN-Anforderungen» und den «prozentualen Anteil der Ackerfläche als BFF».
Gerne vergessen geht dabei: Über 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben ebenfalls einen Abschluss einer Fachhochschule, einer Uni oder der ETH. Auch wahr ist aber, dass der Akademiker-Anteil im Parlament sehr viel höher liegt: Knapp drei Viertel Gstudierte wurden vor einem Monat vom mehrheitlich unstudierten Stimmvolk ins Amt gewählt.
Sie alle können also froh sein, dass auch 15 Prozent Bauernvertreter in den National- und Ständerat gewählt wurden, also rund fünfmal mehr als in der Gesamtbevölkerung. Sie können den Kopfmenschen helfend erklären, was «ÖLN» und «BFF» für den allgemeinen Normalbürger bedeuten.
Wer darf über Akademiker motzen?
Eine Auswertung in Zusammenarbeit mit der Wahlhilfe Smartvote zeigt: Eigentlich sollten alle Parteien den Ball flach halten. Am nächsten an die Volksverhältnisse herankommt tatsächlich die SVP, doch auch ihre Akademiker kratzen schon an der 50-Prozent-Marke. Denn selbst einige Bauernlobbyisten wie Nationalrat Mike Egger zählen dazu: Der Fleischfachmann hat sowohl einen Masterabschluss wie auch ein Nachdiplomstudium vorzuweisen.
Für den volksnahen Ausgleich müssen so andere sorgen, wie zum Beispiel Nationalrat Thomas Matter. Er hat zwar eine Matur im Sack, aber nie studiert und ist deshalb nur Banker und Milliardär geworden.
Apropos Fleischfach: Definitiv ins eigene Fleisch schneiden sich beim Akademiker-Bashing die Grünliberalen. Sie schicken über 80 Prozent Hochschulabgänger nach Bern. SP und Grüne übertreffen diesen Wert gar noch, knapp dahinter folgen FDP und Mitte.
Alles hat auch seine Nachteile
Ist das nun Grund zur Besorgnis? Jein, kommt darauf an, es ist kompliziert, oder, tadah: Kannst du nicht studieren, sowas. Natürlich sollten Volksvertreter eine Ahnung vom realen Leben haben. Für einen Grossteil der Bevölkerung ist dieses Leben aber eben akademisch, für einen ganz kleinen Teil nur landwirtschaftlich.
Wo man natürlich jetzt einwenden könnte: Gut, aber die Landwirtschaft ist immerhin lebenswichtig, die Philosophie und Germanistik aber nicht. Und der Einwand ist berechtigt, denn es spielt ja immerhin auch noch eine Rolle, welches Fach jemand studiert hat. Und was man daraus gemacht hat.
Sehr viele dieser Akademiker, quer durch alle Parteien, haben zum Beispiel die Juristerei studiert. Ergo: Keine Ahnung von Botanik und noch viel weniger vom Alltag der Prämienzahlenden und Mietzinsschuldenden. Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber dafür haben sie eine Ahnung von Gesetzen. Immerhin ist das Parlament «das gesetzgebende Organ», und jemand muss den Fleischfachmännern ja erklären, was ein Gummiparagraph ist.
Erklärungsbedarf: Hoch
Dass es in einem Parlament eher etwas überdurchschnittlich viele Menschen mit höherer Schuldbildung hat, sollte nicht überraschen. Schliesslich wird man nicht mal eben so gewählt, sondern hat eine Karriere und einen Wahlkampf hinter sich.
Es sollte auch nicht beunruhigen: Schliesslich geht es oft und immer öfter um überdurchschnittlich komplexe Fragen. Gefährlich wird es nur dann, wenn sich gewisse Leute als Fachidioten entpuppen sollten. Sich nur in einem eng begrenzten Themenbereich auszukennen, wird da schnell mühsam. Bei jeder zweiten dreibuchstabigen Abkürzung einen Landwirt suchen zu müssen, scheint doch eher zeitaufwändig.
Abgesehen davon, dass sich das herumspricht und man bei der Bauernlobby bald als «dumme GVE» gilt. Über ein Zuviel von dieser oder jener Sorte Fachleute im Parlament zu lästern, scheint eher fehl am Platz. Vielleicht sollte das mal jemand dem Stimmvolk und den 246 Fachleuten im Parlament erklären.
Zum Beispiel dieser Weinbauer, der zwar eine Latein-Matur gemacht hat, dann aber dem Studium eine Lehre vorzog. Er heisst Guy Parmelin und ist Vorsteher des Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und damit zuständig für die ETH. Dabei hat er doch vom realen Hochschulleben gar keine Ahnung?