«Pragmatiker und Realist» – Mustafa Atici (SP/BS) im Interview
Im Interview mit Nau.ch erklärt SP-Nationalrat Mustafa Atici, weshalb er im Winter die Nachfolge von Alain Berset im Bundesrat antreten will.
Das Wichtigste in Kürze
- Im Interview erklärt SP-Nationalrat Mustafa Atici, weshalb er Bundesrat werden will.
- Der Stadtbasler ist überzeugt, dass er seine Perspektive gewinnbringend ausspielen könnte.
- Auf dem Tellplatz spricht der 53-Jährige über Pragmatismus, Realpolitik und Volksnähe.
Mit dem bevorstehenden Rücktritt von Alain Berset bringen sich die Sozialdemokraten in Stellung, um den Sitz im Bundesratszimmer zu verteidigen. Bis dato halten sich die meisten Kandidierenden bedeckt – einen definitiven Fahrplan will die Linkspartei im September verkünden.
Offiziell hat erst ein Mann seinen Hut in den Ring geworfen: Der Stadtbasler SP-Nationalrat Mustafa Atici will die Nachfolge von Alain Berset antreten. Nau.ch hat den Bildungspolitiker in seiner Heimat zum Interview getroffen. Auf dem Basler Tellplatz spricht der 53-Jährige über seinen persönlichen und politischen Werdegang, über Volksnähe und über Realpolitik in Bundesbern.
Nau.ch: Herr Atici, Sie stammen aus Elbistan in der Türkei und sind 1992 in die Schweiz migriert, um Ihr Masterstudium abzuschliessen. Heute sind Sie Chef eines Catering-Unternehmens, Familienvater und Nationalrat. Sie sind ein Schweizer mit Migrationshintergrund – dennoch kennen Sie dieses Land wahrscheinlich besser als viele, die hier geboren wurden. Verstehen Sie sich selbst als Vorbild für eine gelungene Integration?
Mustafa Atici: Ich bin gut unterwegs und konnte bisher schon vieles erreichen – natürlich erfülle ich damit auch eine Vorbildfunktion. Menschen mit Migrationshintergrund können an meinem Beispiel sehen, dass in der Schweiz vieles möglich ist. Aber: Längst nicht alle haben so eine gute Ausgangslage, wie ich sie damals hatte. Ich bin «nur» als Student in die Schweiz gekommen und konnte auf reichlich Unterstützung und ein familiäres Netzwerk zurückgreifen.
Nau.ch: Hier am Tellplatz in Basel hat ihre politische Laufbahn vor mehr als 20 Jahren ihren Anfang genommen. Mittlerweile blicken Sie auf eine erfolgreiche Karriere in der Schweizer Politik zurück: 14 Jahre lang amteten Sie im Basler Grossen Rat, seit nunmehr drei Jahren vertreten Sie Ihren Kanton im Nationalrat.
Atici: Wenn man politisch etwas bewirken will, dann ist die Nähe zu den Menschen enorm wichtig. Der Tellplatz ist für mich wie «bei mir zu Hause». Hier kennen mich viele Menschen – als Privatperson und als Politiker. Ich kann mich sehr gut an meinen Parteieintritt erinnern: Damals hatte ich ein Treffen mit der Ortssektion. Das war ein gutes Gespräch, ich habe das sehr ernst genommen und hatte mich gut vorbereitet. Ich glaube, ich habe sogar einen Anzug getragen! (Lacht)
Nau.ch: Jetzt bewerben Sie sich für das höchste politische Amt im Land – Sie möchten die Nachfolge von Alain Berset antreten. Weshalb möchten Sie in den Bundesrat?
Atici: Mir liegt die Zukunft unseres Landes sehr am Herzen. Ich bin mit 23 eingewandert und habe von diesem Land enorm profitiert. Deshalb möchte ich etwas zurückgeben. Natürlich kann man das nicht nur als Bundesrat. Ich bin aber überzeugt, dass ich meine Perspektive gerade auch im Bundesratszimmer gewinnbringend ausspielen kann.
Nau.ch: Welche Themen sind Ihnen besonders wichtig?
Atici: Eine Realität, welche mich seit Beginn meiner Amtszeit in Bundesbern beschäftigt: Fast 40 Prozent der Bevölkerung hierzulande hat einen Migrationshintergrund. Wir erleben das auf der Strasse, im Büro und im Klassenzimmer. Trotzdem fehlt die Perspektive dieser Menschen innerhalb der Politik fast vollkommen. Wie sind sie sozialisiert? Warum sind sie hier? Wie leben sie? Wo drückt ihr Schuh? In der Politik werden diese Fragen – wenn überhaupt – meist nur mit einer negativen Konnotation gestellt. Neben unerwünschten Konsequenzen bringt die Zuwanderung aber auch positive Effekte mit sich. Wir haben in den vergangenen 15 Jahren sehr intensiv über das Thema «Gleichstellung» gesprochen. Gleichzeitig funktioniert auch die Integration und insbesondere die politische Partizipation noch nicht optimal. Es lohnt sich für die Schweiz, hier noch mehr zu investieren. Überdies sollte die Schweiz auch versuchen, das weltweite Problem der Migration aussenpolitisch anzugehen. Als kleines Land können wir nicht alle Menschen hier hin holen – wir sollten Fluchtursachen bekämpfen und dafür sorgen, dass diese Menschen in ihren Heimatländern bleiben können. Dafür braucht es demokratische Strukturen, Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Wirtschaft. Wir sollten die guten Dienste der Schweiz dahingehend einsetzen, um in einer noch friedlicheren und noch sozialeren Welt leben zu können.
Nau.ch: Was liegt Ihnen sonst noch am Herzen?
Atici: Bildungspolitik ist mein Kernthema. Ich spüre seit dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU, dass der Bundesrat nicht erkannt hat, wie wichtig Bildung, Forschung und Innovation für unser Land sind. Das sind unsere wertvollsten Ressourcen – darauf bauen unser starker Arbeitsmarkt und unser Wohlstand auf. Aber in Bundesbern geht es diesbezüglich mittlerweile seit Jahren nicht mehr vorwärts – das bereitet mir Sorgen.
Nau.ch: Sollte die Schweiz auch über einen EU-Beitritt nachdenken?
Atici: Sicherlich. Längerfristig könnte ich mir einen etappenweisen EU-Beitritt vorstellen. Wir profitieren von der EU, ebenso wie sie von uns profitiert: Vom freien Marktzugang, von der Personenfreizügigkeit und von der Forschungszusammenarbeit. Längerfristig wird die Schweiz ein geregeltes Verhältnis mit der EU brauchen.
Nau.ch: Braucht die Schweizer Bildungspolitik neue Impulse?
Atici: Insbesondere in der Frühförderung der Kinder investieren wir noch viel zu wenig. Im direkten Vergleich mit unseren Nachbarländern oder den OECD-Staaten belegt die Schweiz in diesem Bereich einen der Schlussränge. Es braucht mehr Geld im Bildungsbereich, insbesondere dort, wo wir auch diejenigen erreichen können, die bisher weniger profitiert haben. Die Berufslehren müssen endlich gestärkt werden. Ferner sind Weiterbildungen hierzulande grösstenteils Privatsache. Gerade für Menschen mit kleineren Einkommen und Selbstständige mit kleineren Betrieben ist es deshalb oft schwierig, die nötigen Mittel für eine Weiterbildung aufzubringen. In unserer schnelllebigen Gegenwart sind Weiterbildungen aber ein absolutes Muss. Man muss à jour bleiben: Heute reicht es nicht mehr, wenn ich vor 20 Jahren eine Berufslehre gemacht habe. Hier sollte der Staat noch mehr unterstützend eingreifen.
Nau.ch: Wir haben bereits über Integration und politische Partizipation gesprochen. Sie haben sich im Nationalrat für ein landesweites Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene eingesetzt – ohne Erfolg. Was spricht für diese Massnahme?
Atici: Ich betone oft, dass ich ein Pragmatiker bin – dieser Vorstoss ist eine gute Veranschaulichung: Warum nicht ein Ausländerstimmrecht auf kantonaler oder nationaler Ebene? Weil es weder mehrheitsfähig noch zielführend gewesen wäre. Aber gut ein Viertel aller Schweizer Gemeinden kennt das Ausländerstimmrecht bereits heute. Mit dem Vorstoss wollte ich die Frage aufs Parkett bringen, ob dies bei den anderen Gemeinden nicht auch möglich wäre. Eine solche Massnahme wäre überdies für die Integration der Migrantinnen und Migranten sehr dienlich: Politische Teilhabe ist ein starkes Instrument zur Integration.
Nau.ch: Gegner der Idee könnten erwidern, dass Ausländer in der Schweiz bereits heute abstimmen können. Wer möchte, kann sich – sobald die entsprechenden Kriterien erfüllt sind – einbürgern lassen, so wie Sie.
Atici: Ja, das stimmt – ich bin im Übrigen ein grosser Befürworter der Einbürgerung. Das sage ich Menschen mit Migrationshintergrund auch immer wieder: Wie lange lebst du schon hier? Arbeitest du? Lass dich einbürgern! Aber auch hier dürfen wir die Realität nicht aus den Augen verlieren: Fakt ist, dass die Kriterien zur Einbürgerung hierzulande sehr streng sind – zehn Jahre sind eine lange Zeit. Wer hier zur Welt kam, hier sozialisiert wurde, hier zur Schule ging und gut integriert ist, dem sollte ein Weg zur Staatsbürgerschaft offenstehen, welcher weniger Papierkram und bürokratische Spiessrutenläufe beinhaltet.
Nau.ch: Damit wären wir auch wieder bei der politischen Partizipation.
Atici: Ganz genau! Es ist auch für unsere Gesellschaft von Interesse, dass diese Menschen eingebunden werden, Verantwortung übernehmen und sich engagieren. Auf diese Weise kann auch verhindert werden, dass sie sich in Parallelgesellschaften abkapseln.
Nau.ch: Was könnte die Schweiz bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund besser machen?
Atici: Generell möchte ich betonen, dass wir integrationspolitisch sehr gut unterwegs sind. Wir sind ein Einwanderungsland, das sehr von der Migration profitiert – gegenwärtig und in der Vergangenheit. Was mir etwas fehlt, ist ein Schweizerisches Selbstverständnis für diese Tatsache. Migration, Multikulturalismus und Vielfältigkeit sollten etwas Alltägliches sein, nichts Exotisches oder Fremdes.
Nau.ch: Integration ist eine gegenseitige Angelegenheit. Was könnten Ausländerinnen und Ausländer auf diesem Gebiet besser machen?
Atici: Primär sollte allen Menschen – insbesondere bei Familiennachzügen – klar sein, dass die Sprache enorm wichtig ist. Migrantinnen und Migranten müssen viel Zeit investieren, um schnellstmöglich eine Landessprache zu lernen. Ohne adäquate Sprachkenntnisse wird man sich ein Leben lang unglücklich fühlen, das ist vielen nicht bewusst. Gleichzeitig müssen viele Menschen aus ihrer Opfermentalität ausbrechen. Natürlich gibt es auch in der Schweiz Diskriminierung. Aber: Wer morgens aufsteht und mit Diskriminierung rechnet, der wird sich auch eher diskriminiert fühlen.
Nau.ch: Sie sind nicht der einzige Stadtbasler Politiker, dem Bundesratsambitionen nachgesagt werden. Neben Ihnen dürfte wohl auch Ihr Parteikollege und Regierungspräsident Beat Jans für die Ersatzwahl in den Bundesrat antreten. Gleiches gilt für Ihre Amtsvorgängerin, Ständerätin Eva Herzog. Sorgt dies für einen parteiinternen Konkurrenzkampf?
Atici: Nein, ich würde es sehr begrüssen, wenn Beat Jans oder Eva Herzog auch kandidieren würden. Ich kenne die beiden bestens und weiss, dass sie für den Bundesrat hervorragend geeignet wären. Ausserdem bin ich überzeugt, dass meine Kernthemen auch von Beat Jans oder Eva Herzog gut abgedeckt würden. Schliesslich zeigt dies auch auf, wie gross die Kapazitäten bei der SP Basel-Stadt sind.
Nau.ch: Wie beurteilen Sie ihre Erfolgschancen – gerade auch mit Blick auf die starke Konkurrenz?
Atici: Ich mache mir keine Illusionen – bis zur Wahl durch die Bundesversammlung liegt noch ein weiter Weg vor mir. Es ist unmöglich vorauszusehen, was bis dann noch alles passieren wird.
Nau.ch: Seit dem Rücktritt von Hans-Peter Tschudi – auch ein Sozialdemokrat – hat Ihr Kanton seit 1973 keinen Bundesrat nach Bern entsandt. Weshalb braucht Basel-Stadt endlich wieder einen Bundesrat?
Atici: Basel ist einer der Wirtschaftsmotoren der Schweiz: Rund ein Drittel des gesamten Exportvolumens kommt aus Basel. Ausserdem zeichnet sich die Stadt durch eine offene und fortschrtliche Haltung in vielen Bereichen aus, die dem ganzen Land sehr gut tun würde.
Nau.ch: Tschudi ging als «Vater der AHV» in die Geschichtsbücher ein. Wenn alles nach Ihrem Plan läuft, verewigt sich Bundesrat Mustafa Atici in den Geschichtsbüchern als «Vater der ... »?
Atici: (Nachdenklich) Der Vater einer offenen Schweiz. Eine offene Schweiz, die mit Stolz in ihre Vergangenheit und ihre Zukunft blickt und auf dem internationalen Parkett selbstbewusst auftritt.