«Total sauber»: Vingegaard-Schwur in der Stunde des Triumphs
Jonas Vingegaard hatte mit dieser Frage in der Stunde des Triumphs natürlich gerechnet. Und war bestens vorbereitet. Ob man denn seinen Leistungen bei der Tour de France trauen könne, wollte eine US-Journalistin wissen.
«Wir sind total sauber. Jeder von uns. Ich kann für das ganze Team sprechen. Niemand von uns nimmt etwas Verbotenes», sagte der überlegene Sieger der 109. Frankreich-Rundfahrt und erklärte zugleich, was sein Team Jumbo-Visma denn besser mache als andere. «Wir sind aufgrund unserer Vorbereitung so gut. Wir haben Höhentrainingslager weiterentwickelt. Wir schauen auf das Material, die Ernährung, das Training. Das Team gehört in diesen Punkten zu den besten. Deshalb muss man uns glauben.»
Die Frage der Legitimität der Leistungen ist mit der jüngeren Geschichte des Radsports fest verwachsen. Sämtliche Tour-Sieger in diesem Jahrhundert bekamen sie gestellt, antworteten mal ausführlich, mal wortkarg. Oder eben patzig wie Vingegaards Teamkollege Wout van Aert. «Das ist solch eine Scheissfrage. Sie kommt jedes Mal, wenn jemand die Tour gewinnt. Weil wir so gut sind, müssen wir uns rechtfertigen? Ich verstehe das nicht», sagte der Belgier, immerhin mehrfacher Etappensieger und Gewinner des Grünen Trikots dieser Tour.
Sportlich auf den Spuren von Riis
Womöglich versteht Vingegaard die Frage besser - allein schon aus dem historischen Kontext heraus. Der 25-Jährige war noch nicht geboren, als Bjarne Riis 1996 als erster Däne die Tour gewann und in dem Land jenen Boom lostrat, den Deutschland ein Jahr später mit Jan Ullrich erlebte. 2007 brach Riis seinen Landsleuten schliesslich das Herz, als er mit einer fast schon unverschämten Gleichgültigkeit Doping gestand. Just im selben Jahr hatte Vingegaard seine Liebe zum Radsport entdeckt, als ihn sein Vater mit zu einer Etappe der Dänemark-Rundfahrt nahm.
Im Vergleich mit Deutschland hat Dänemark die deutlich heftigeren Doping-Skandale vorzuweisen. Es gab nicht nur Riis. Es gab auch noch Michael Rasmussen. Der - es war ebenfalls 2007 - als Gesamtführender der Tour aus dem Rennen genommen wurde, da er falsche Angaben über seinen Aufenthaltsort in der Vorbereitung gemacht hatte. Und dennoch blieben die Dänen dem Radsport treu. Man habe im Sommer einfach schon immer die Tour in Dänemark geschaut, sagt ein Journalist der Zeitung «Jyllands Posten» aus Vingegaards Heimat. Das sei einfach Tradition. Zudem gebe es eine sehr gute Verbands- und Nachwuchsarbeit, viele Rennen, ein gutes Scouting.
Andere Weg als Pogacar
Und so bringt ein kleines Land wie Dänemark immer wieder grosse Talente wie Vingegaard hervor. Wobei das Leichtgewicht aus Jütland nicht den Premium-Genpool seines grossen Widersachers Tadej Pogacar hat. «Wenn man genau hinschaut, hat er den langen Weg genommen», sagte Ralph Denk, Chef des deutschen Teams Bora-hansgrohe.
Der Slowene Pogacar gewann seine erste Tour mit 21 Jahren. Im selben Alter stand Vingegaard morgens noch in einer Fischfabrik an der Westküste und stieg erst nachmittags aufs Rad. Pogacar (23) fuhr schon in den Nachwuchsrennen allen davon, Vingegaard radelte da eher unter dem Radar. Erst als Jumbo-Visma 2018 von Vingegaards dänischem Amateur-Team auf ihn aufmerksam gemacht wurde und Zugang zu seinen Trainingsdaten erhielt, nahm die Karriere Fahrt auf.
Anfangs der Tour agierte Vingegaard noch als Doppelspitze mit Primoz Roglic, doch der Slowene stürzte auf der fünften Etappe und rutschte in die Helferrolle. Vingegaard stieg zum Anführer auf und setzte Pogacar mit zwei grossen Angriffen matt. Zunächst fuhr er am Col du Granon in den Alpen ins Gelbe Trikot, dann sicherte er seinen Triumph in Hautacam in den Pyrenäen ab. Letzteres ist eine erstaunliche Parallele zu Riis, der bei seinem Triumph 1996 ebenfalls in dem Skiressort letzte Zweifel beseitigte.
Für Vingegaard wird es am Mittwoch einen Empfang auf dem Rathausplatz von Kopenhagen geben - wie einst für Riis. «Ich freue mich sehr auf die Woche. Es wird sicher sehr stressig, aber auch sehr aufregend», sagte Vingegaard. Es liegt an ihm, seinen Worten bezüglich Doping in den kommenden Jahren Glaubwürdigkeit zu geben. Die Frage nach dem sauberen Tour-Sieger wird er nämlich immer wieder gestellt bekommen.