FCB bis BVB: Warum kommt es in Stadien zur Fan-Flucht, Ueli Mäder?
Das Wichtigste in Kürze
- Was zuletzt in der Schweiz im Cupspiel des FCB auffiel, geschieht auch in anderen Ligen.
- Fussballfans strömen schon lange vor Abpfiff aus dem Stadion.
- Im Interview gibt Soziologe Ueli Mäder Antworten zum sich häufenden Phänomen.
Mittwochabend, 28. Februar, St.-Jakob-Park in Basel. Der FCB liegt nach 80 Minuten im Cup gegen Lugano mit 0:2 zurück. Einige Fans haben das Stadion längst verlassen – und verpassen, wie Barry den FCB in die Verlängerung schiesst.
Montagabend, 4. März, Bramall Lane im englischen Sheffield. Das Kellerkind der Premier League liegt gegen Arsenal schon nach 15 Minuten 0:3 zurück. Zu viel für so manche Anhänger – im Netz kursieren Bilder von Zuschauerströmen in Richtung Ausgang.
Ähnliches geschieht auch beim BVB, einem Klub, dessen Fans eigentlich für Vereinstreue und «echte Liebe» stehen. Im November verlassen Anhänger eine Viertelstunde vor Schluss den Signal-Iduna-Park. Die Bayern führen zu diesem Zeitpunkt 3:0, siegen am Ende 4:0.
Hört man sich in Fankreisen um, so wird das Phänomen bestätigt. Auch der in den letzten Jahren verwöhnte Meister YB blieb zuletzt nicht davon «verschont». Fussballfans, die das Stadion vorzeitig verlassen, häufen sich. Warum?
Ueli Mäder ist einer der renommiertesten Soziologen der Schweiz, studierte an der Uni Basel Soziologie, Psychologie und Philosphie. Mäder ist Sportfan, spielte früher mit dem TV Sissach in der Handball-Nationalliga – und nennt im Nau.ch-Interview Gründe für die Fanflucht.
Nau.ch: Warum verlassen Fussballfans das Stadion, wenn das Spiel noch läuft?
Ueli Mäder: Wenn sich ihre Erwartungen nicht erfüllen. Zum Beispiel weil ihre Idole fortgesetzt das Tor nicht treffen. Das frustriert.
Nau.ch: Trotzdem bleibt die Mehrheit im Stadion sitzen.
Mäder: Es reagieren vor allem Fans, die ohnehin mehr Druck verspüren. Beruflich oder privat.
Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal ein Stadion vor Abpfiff verlassen?
Nau.ch: Ein Stürmer, der das Tor nicht trifft, kann aber nicht der einzige Grund sein?
Mäder: Mangelnde Toleranz spielt mit. Diese reicht über den Fussball hinaus. Alles muss wie am Schnürchen funktionieren. Und Fans sind auch Kinder ihrer Zeit.
Nau.ch: Das heisst?
Mäder: Sie orientieren sich, wie die meisten von uns, an dem, was gesellschaftlich bedeutend ist: Geld, Erfolg und Konsum. Das färbt ab und berührt ebenfalls die Solidarität.
Nau.ch: Beim FCB heisst es: Rot steht für die Liebe, Blau für die ewige Treue. Entsolidarisieren sich Fans, die das Stadion verlassen, von ihrem Verein?
Mäder: Ja, teilweise schon. Indem ich zum Beispiel meinen eigenen Verein überhöhe und mich mit ihm nur solidarisiere, wenn es gut läuft. Und sonst zeige ich ihm halt die kalte Schulter, statt ihn erst recht zu unterstützen.
Nau.ch: Der BVB steht eigentlich für «echte Liebe». Was hiesse das beziehungsweise was wäre echte Solidarität?
Mäder: Echte Solidarität basiert auf der Freude am Spiel. Sie respektiert alle, die mittun, und realisiert sich nicht auf Kosten von anderen. Wer gewinnt, ist dann eher zweitrangig. Wobei Engagement durchaus dazu gehört.
Nau.ch: Hinzu kommt: Im Leben wird oftmals jeder Rappen gespart. Ein Fussballticket kostet viel Geld und trotzdem verlassen einige das Stadion nach 15 Minuten.
Mäder: Wer viel bezahlt, verbindet damit Ansprüche. Das ist verständlich. Und wenn sich fürstlich bezahlte Spieler zu wenig einsetzen, dann helfen vielleicht Ränge, die sich leeren. Einzelne Fans verstehen das sogar als Zeichen der Liebe zum Verein. Sie nehmen sich selbst wichtig, wollen sich mit dem Geschehen identifizieren, aber ohne alles zu goutieren. Und der hohe Preis, den sie dafür in Kauf nehmen, wertet den Protest eher auf.
Nau.ch: Welche Rolle spielt die Eigendynamik? Braucht es jemanden, der das Stadion-Verlassen anreisst?
Mäder: Ja, da gibt es so situative Dynamiken. Wenn die einen abziehen, schliessen sich andere gleich an. Wobei andere Fans dann erst recht sitzen bleiben – mehr oder weniger trotzig. Die meisten harren jedoch aus, weil ihr Wohlwollen überwiegt.