Wenn das Kind an Krebs erkrankt
Schockdiagnose Krebs beim Kind: Familienbloggerin Rita Angelone hat mit einer Kinderonkologin über die Arbeit mit krebskranken Kindern gesprochen.
Das Wichtigste in Kürze
- Rund 300 Kinder und Jugendliche erkranken in der Schweiz jährlich an Kinderkrebs.
- Die Kinderonkologin Frau Dr. Tinner erzählt, wie Familien damit umgehen können.
- In Teil 1 des Interviews erklärt sie, wie Familien mit der Diagnose Krebs umgehen können.
In der Schweiz erkranken jährlich rund 300 Kinder und Jugendliche an Kinderkrebs. Mehr als die Hälfte davon sind Säuglinge und Kinder unter vier Jahren.
Die Diagnose Krebs ist ein grosser Schock für die ganze Familie. Der darauffolgende Kampf gegen die Krankheit bedeutet oft nicht nur eine körperliche, sondern auch eine hohe psychische und finanzielle Belastung.
Kinderkrebs Schweiz setzt sich dafür ein, die Situation von Betroffenen zu verbessern. Wie das ganz konkret gelingen kann, erklärt uns eine Kinderonkologin im Interview.
Interview Teil 1: Wie die Krebsdiagnose gestellt wird und wie Familien damit umgehen.
Frau Dr. Tinner, wie sieht Ihre Arbeit mit Kindern, die Krebs haben, aus? Entstehen dabei besondere Beziehungen?
Wir haben ein Bezugsarztsystem: Jeder Arzt kennt ein paar Familien speziell gut und begleitet diese engmaschiger. Anfangs sind die Kinder oft wochenlang im Spital.
In dieser Phase sehen wir sie täglich, untersuchen sie und planen die nächsten therapeutischen Schritte. In dieser Zeit lernen wir die Kinder und ihre Familien gut kennen. Später werden die Kinder im Wechsel ambulant gesehen und je nach Therapie oder bei Komplikationen wieder stationär behandelt.
Wir begleiten die Familien durch eine Lebenskrise. Daraus ergibt sich eine besonders enge Arzt-Patienten-Beziehung.
Welche Phasen durchleben Familien, die mit der Diagnose Kinderkrebs konfrontiert werden?
Je nach Krebsart stellen Eltern und Kinder unterschiedlich früh fest, dass etwas nicht stimmt. So haben Kinder bei Knochentumoren oft lange vor der Diagnosestellung Beschwerden.
Anfänglich denken sie, dass es Wachstumsschmerzen, eine Überlastung oder eine Verletzung seien. Erst nach einer Weile stellt sich heraus, dass es eine ernsthaftere Erkrankung ist.
Kommt Krebs in Frage, werden wir beigezogen und entscheiden über die nächsten Abklärungsschritte. Erhärtet sich der Verdacht, leiten wir die ersten Untersuchungen als Vorbereitung auf eine onkologische Therapie ein.
Sobald wir genügend Informationen haben, sprechen wir mit den Eltern und Kindern und erklären, was wir vermuten und welches die nächsten Schritte sind. Kennen wir dann die genaue Diagnose, führen wir ein Aufklärungsgespräch.
Wir erklären der Familie nicht nur die Diagnose, sondern auch die Therapie. Für die Eltern ist diese Zeit sehr belastend. Die Ungewissheit, bis die Diagnose gestellt wird, ist fast unerträglich.
Die Diagnose Krebs zieht dann den Familien den Boden unter den Füssen weg.
Wie kann eine Kinderkrebs-Therapie aussehen? Und wie wird die Familie miteinbezogen?
Je nach Krebsart besteht die Therapie aus Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung und seltener einer Stammzelltransplantation. Die Therapiedauer ist unterschiedlich.
Eine lymphoblastische Leukämie, die häufigste Krebserkrankung im Kindesalter, wird während zwei Jahren behandelt. Die ersten sechs bis neun Monate sind intensiv und beinhalten regelmässige Spitalaufenthalte.
Das Abwehrsystem des Kindes wird stark beeinträchtigt. Danach folgt eine Erhaltungstherapie mit Chemotherapeutika, die geschluckt werden. Jetzt kann das Kind schon fast wieder normal am Alltag teilnehmen.
Eine Hodgkin-Lymphomtherapie dauert zirka vier Monate, eine Knochentumortherapie fast ein Jahr. Während der Therapie werden Eltern und Kinder zu Spezialisten.
Sie lernen, bei den geringsten Krankheitszeichen zu reagieren, und sind in der Lage, multiple Medikamente zu handhaben und Therapien zu Hause durchzuführen. Wir beziehen sie in alle Entscheidungen mit ein – was sicher richtig ist, aber auch eine grosse Herausforderung für die Familien darstellt.
Wie sieht es nach Abschluss der Kinderkrebs-Therapie aus?
Nach der Therapie folgt die Nachsorge. Anfänglich mit engmaschigen Kontrollen, um einen möglichen Rückfall schnell zu entdecken. Nachher mit dem Ziel, Spätfolgen abzufangen, bevor sie schwerwiegend werden.
Wir kontrollieren zum Beispiel, ob die Kinder sich altersentsprechend entwickeln, und unterstützen Eltern und Kinder, sich im normalen Alltag wieder zurechtzufinden.
Toll ist, dass wir inzwischen sogar für unsere erwachsen gewordenen Patienten eine interdisziplinäre Nachsorgesprechstunde anbieten können, in der ich die Kinderonkologie vertrete.
Mit welchen zusätzlichen Herausforderungen kämpfen die Familien?
Krebs ist in den Köpfen vieler Menschen immer noch ein Todesurteil. Dass ein Kind Krebs hat, darf folglich nicht sein. Entsprechend können nicht alle gleich gut mit dem Thema umgehen.
Viele gehen betroffenen Familien aus dem Weg. Andere sagen unbedachte Dinge, wie «bist du sicher, dass es nicht an der ungesunden Ernährung lag?».
Damit wollen sie in erster Linie sich selber und die eigenen Kinder vom Thema abgrenzen. Das kann für Betroffene sehr verletzend sein. Auf der anderen Seite können viele Menschen auch nicht glauben, dass ein Hirntumor nicht in jedem Fall heilbar ist.
Sie geben den Eltern zu verstehen, dass sie sich nicht genügend um eine Heilung bemüht hätten. Je schwieriger die Situation ist, desto häufiger werden Eltern mit therapeutischen Ideen bombardiert.
So bekommen sie zu hören, dass eine zuckerfreie Diät oder Marihuana den Krebs aushungern können. Oder sie erhalten Adressen von Wunderheilern. Auch im Internet sind viele alternative Realitäten präsent. Es ist sehr anstrengend für die Eltern, sich in diesen Situationen zu behaupten.
Welche Folgen haben solche Verhaltensweisen Dritter auf die Eltern?
Betroffene Eltern fragen sich ohnehin oft, was sie falsch gemacht haben, und leiden unter Gewissensbissen. Unbedachte, verletzende Verhaltensweisen von Dritten verstärken diese negativen Gefühle. Dies obwohl wir ihnen erklären, dass niemand schuld daran ist, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher Krebs bekommt.
***
Frau Dr. med. Eva Maria Tinner ist Kinderonkologin und -hämatologin am Inselspital Bern und Koordinatorin der Nachsorgesprechstunde am Kantonsspital Liestal. Sie arbeitet in einem interdisziplinären Team zusammen mit erfahrenen Ärzten, Pflegefachleuten, Psychoonkologen und Sozialarbeitern.
Frau Dr. Tinner betreut krebskranke Kinder und ihre Familien ab dem Zeitpunkt, in dem ein dringender Verdacht auf Kinderkrebs besteht, über die ganze Therapie hindurch bis hin zur Nachsorge. Sie weiss nicht nur um die grossen Herausforderungen, denen sich betroffene Familien stellen müssen, sondern auch wie wir alle ganz konkret Unterstützung bieten können.
Dieser Beitrag ist im Rahmen der Kampagne «Mein Kind hat Krebs» in Zusammenarbeit mit Kinderkrebs Schweiz entstanden. Er ist zeitgleich auf dem Blog von Rita Angelone erschienen, die über die unterschiedlichsten Erlebnisse als Familie schreibt.
Teil 2 des Interviews folgt am 29. November.