Warum traumatisierte Kinder später öfter süchtig werden

Alkohol, Drogen, Social Media – Suchterkrankungen können sehr unterschiedlich aussehen. Gemeinsam ist ihnen häufig ein zugrundeliegendes Kindheitstrauma.

Alkoholsucht ist eine der am weitesten verbreiteten Süchte weltweit. Oftmals liegen der Abhängigkeit traumatische Kindheitserlebnisse zugrunde. - Depositphotos

Das Wichtigste in Kürze

  • Suchtkrankheiten können unterschiedlich ausfallen, haben aber oft den gleichen Ursprung.
  • In «In the Realm of Hungry Ghosts» erklärt Gabor Maté, wie Traumata Süchte begünstigen.
  • Richard Schwartz ist der Begründer des Inneren-Familien-Systems (IFS).

Frühkindliche Traumata können tiefgreifende Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit haben. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Entwicklung von Suchterkrankungen im späteren Leben.

Verschiedene Experten und Forscher haben diesen Zusammenhang untersucht. Allen voran der momentan schwer gefragte kanadische Arzt und Suchtexperte Gabor Maté. Aber auch Richard Schwartz, Psychotherapeut und Begründer des Systems der «Inneren Familie», sowie Trauma-Experte Bessel van der Kolk leisten entscheidende Beiträge zur Aufklärung.

Ihre Erkenntnisse bieten wertvolle Einblicke in die Mechanismen, wie traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit das Risiko für Abhängigkeiten erhöhen.

Gabor Maté: Der Experte für Trauma und Sucht

Gabor Maté ist bekannt für seine Arbeit auf dem Gebiet der Suchtforschung, primär in Bezug auf die Verbindung zwischen Trauma und Abhängigkeiten. In seinem Buch «In the Realm of Hungry Ghosts» beschreibt er, wie traumatische Erfahrungen in der frühen Kindheit eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Suchterkrankungen spielen.

Dr. Gabor Maté, der als Kind jüdischer Eltern in Budapest selbst eine traumatische Kindheit erlebte, entwickelte sich später zu einem führenden Experten auf dem Gebiet der Traumaforschung. - Screenshot Instagram @gabormatemd

Maté erklärt, dass Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, das von Vernachlässigung, Missbrauch oder emotionalem Stress geprägt ist, dazu neigen, Bewältigungsmechanismen zu entwickeln, um mit den überwältigenden Emotionen umzugehen. Diese Mechanismen können später in Form von Abhängigkeiten wie Drogen-, Alkohol- oder Verhaltenssüchten auftreten.

Maté betont, dass Sucht nicht einfach das Ergebnis von individueller Schwäche oder moralischem Versagen ist. Sie sei vielmehr als eine Reaktion auf tief verwurzelte, unerfüllte emotionale Bedürfnisse zu verstehen. Maté führt an, dass süchtige Verhaltensweisen oft der Versuch sind, das innere emotionale Vakuum zu füllen, das durch die frühen Traumata entstanden ist.

Laut Maté ist das Gehirn eines Kindes besonders anfällig für die Auswirkungen von Traumata, da es sich noch in der Entwicklung befindet und nicht die emotionale Intelligenz besitzt, mit psychischen Schmerzen umzugehen. Stresshormone wie Cortisol können die neurologischen Bahnen negativ beeinflussen, was später zu einer erhöhten Anfälligkeit für Suchtverhalten führt.

Richard Schwartz: Das System der «Inneren Familie» und Traumabewältigung

Richard Schwartz, Begründer des Systems der «Inneren Familie» (IFS für «Internal Familiy System»), hat ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Auswirkungen von Kindheitstraumata auf Suchterkrankungen geleistet. Das IFS-Modell basiert auf der Vorstellung, dass das menschliche Bewusstsein aus mehreren «Teilen» besteht, die unterschiedliche Funktionen und Rollen haben. Traumatische Erlebnisse in der Kindheit führen laut Schwartz dazu, dass sich bestimmte Teile des Selbst abspalten. Damit «schützen» sie sich vor dem emotionalen Schmerz, der zu dem Zeitpunkt seiner Entstehung schlichtweg nicht zu bewältigen ist.

Auch eine Essstörung wie Bulimie oder Magersucht hat meistens tiefliegende Ursachen. Mit dem Essen wird eine emotionale Leere kompensiert, durch das Erbrechen der Druck abgebaut. - Depositphotos.

Diese «beschützerischen» Teile können jedoch später, um den ursprünglichen Schmerz zu vermeiden, destruktive Verhaltensweisen entwickeln – zu denen auch Suchtverhalten gehören. Im IFS-Modell wird Sucht als ein Versuch gesehen, unerträgliche Emotionen wie Scham, Angst oder Trauer zu bewältigen. Anstatt den Kern des Traumas zu konfrontieren, nutzt die Person süchtige Verhaltensweisen, sogenannte «Firefighter», um den Schmerz zu betäuben.

Der Schlüssel zur Heilung liegt laut Schwartz darin, den Zugang zu diesen abgetrennten Teilen zu finden und ihnen Mitgefühl entgegenzubringen. Dies fördert die Integration der abgespaltenen Teile und ermöglicht es der Person, gesunde und suchtfreie Bewältigungsmechanismen zu entwickeln.

Bessel van der Kolk: Die Auswirkungen von Trauma auf das Gehirn

Bessel van der Kolk ist ein führender Experte auf dem Gebiet der Traumaforschung. In seinem international erfolgreichen Buch «The Body Keeps the Score» hat er detailliert beschrieben, wie Traumata Gehirn und Körper beeinflussen.

Van der Kolk betont, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit das Nervensystem in einem ständigen Zustand der Hypervigilanz halten. Dies könne dazu führen, dass Betroffene Schwierigkeiten haben, sich sicher und entspannt zu fühlen. Diese chronische Anspannung kann die Fähigkeit zur Selbstregulation beeinträchtigen, was wiederum das Risiko für die Entwicklung von Suchtverhalten erhöht.

Van der Kolk argumentiert, dass das Gehirn von traumatisierten Personen in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft ist. Daher neigen diese auch eher dazu, nach schnellen und unmittelbaren Lösungen zu suchen, um den inneren Stress zu lindern. Substanzen wie Alkohol oder Drogen bieten eine kurzfristige Erleichterung, indem sie die überaktiven Stressreaktionen dämpfen. Langfristig verstärken sie jedoch den Teufelskreis von Sucht und Trauma, da die zugrundeliegenden emotionalen Wunden nicht geheilt werden.

Bessel van der Kolk prägte in den 1970er-Jahren massgeblich den Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). - Screenshot Instagram @bessel_van

Van der Kolk betont auch die Bedeutung von körperorientierten Therapieansätzen bei der Behandlung von traumatisierten Personen. Da Trauma nicht nur im Geist, sondern auch im Körper gespeichert wird, sind rein kognitive Ansätze oft unzureichend. Therapeutische Ansätze wie somatische Therapien oder EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) können dabei helfen, traumatische Erinnerungen, die im Körper festgehalten werden, zu lösen. Sie befähigen die Betroffenen, gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Gemeinsame Erkenntnisse und therapeutische Implikationen

Die Erkenntnisse dieser Spezialisten verdeutlichen, dass frühkindliche Traumata eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Suchterkrankungen spielen. Der gemeinsame Nenner ihrer Theorien besteht in der Grundannahme, dass Sucht häufig ein Symptom tief verwurzelter emotionaler Wunden ist. Diese Wunden entstehen oft durch traumatische Erfahrungen in der Kindheit. Diese müssen nicht zwingend auf sexuellem Missbrauch oder Brutalität basieren, auch Neglect oder emotionale Erpressung und Liebesmangel können traumatisch sein.

In der Therapie von Suchterkrankungen ist es entscheidend, das zugrundeliegende Trauma zu erkennen und zu behandeln. - Depositphotos

Diese Wunden beeinflussen die Fähigkeit einer Person, gesunde Bindungen einzugehen, Stress zu bewältigen und ihre Emotionen zu regulieren. Ansätze wie das IFS, körperorientierte Therapien und ein tiefes Verständnis für die neurobiologischen Auswirkungen von Traumata können den Heilungsprozess unterstützen.

Anstatt nur die Symptome, also die Sucht zu behandeln, sollten Therapeuten den Fokus auf die Heilung der traumatischen Wurzeln legen. Nur so kann eine langfristige Genesung ermöglicht werden.

Über die Autorin

Judith Heede ist eine deutsche Autorin, die sich seit über 20 Jahren intensiv mit dem Thema mentale Gesundheit auseinandersetzt – zunächst als Betroffene, später als Expertin auf diesem Gebiet. Als ausgebildete Journalistin schreibt sie heute für verschiedene Medien und arbeitet als Lebensberaterin mit den Schwerpunkten Trauma und Sucht.

Neben ihrer praktischen Arbeit erweitert Judith Heede ihr Wissen in akademischen Kontexten. Sie nimmt an den Master-Events zu Trauma, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden an der University of Oxford teil und studiert hier zudem Psychologie im Rahmen eines «Certificate of Higher Education».