So beeinflusst Ihre Kindheit heute noch Ihr Leben
Unsere frühesten Bindungen wirken oft viel stärker in uns, als wir glauben. Sie formen unsere Beziehungen und unsere Entscheidungen. Wie, erfahren Sie hier.

Das Wichtigste in Kürze
- Viele Entscheidungen sind alte Kindheitsmuster – keine freien Handlungen.
- Trigger zeigen: Ein abgespaltener Teil reagiert, nicht Ihr erwachsenes Selbst.
- Heilung heißt: Fühlen lernen, was früher nicht gefühlt werden durfte.
Es gibt diesen Moment, in dem man sich fragt: «Warum habe ich das schon wieder gemacht?» Wieder Ja gesagt, obwohl man Nein meinte. Wieder eine Beziehung gewählt, die sich nach altem Schmerz anfühlt. Wieder still geblieben, obwohl alles in einem geschrien hat.
Und dann steht man da, leicht benommen – wie nach einem emotionalen Autopiloten-Flug. Im schlimmsten Fall überkommen einen danach selbstzerstörerische Handlungszwänge, Substanz-Cravings, Fressattacken oder der dumpfe Wunsch, sich einfach nur sinnlos zu besaufen. Jedenfalls ging es mir so.
Nicht, weil ich es wollte. Sondern, weil mein System es nicht besser konnte. Frust, Schmerz, Überforderung – bloss weg damit. Bloss nicht fühlen, was zu gross ist.
Willkommen in der Welt frühkindlicher Bindungserfahrungen.
Die Familie als Drehbuchautor
Wir tun gerne so, als wären wir rationale Wesen. Selbstbestimmt, reflektiert, erwachsen. Aber vieles, was wir heute für Entscheidungen halten, sind in Wahrheit Überlebensstrategien von damals – fein säuberlich abgespeichert im limbischen System, das uns seit dem ersten Schrei begleitet.
Die Bindungstheorie, begründet von John Bowlby, brachte es bereits in den 1960ern auf den Punkt: Die Qualität unserer ersten Beziehungen – meist zu Mutter und Vater – entscheidet, wie wir später Nähe zulassen, Konflikte aushalten und unseren Selbstwert erleben. Und dieser Selbstwert prägt so gut wie alles: unsere Gesundheit, unsere Liebesbeziehungen, unsere Freundschaften – und nicht zuletzt, wie wir uns im Berufsleben bewegen.

Oder, wie Bowlby sagte: «All of us, from the cradle to the grave, are happiest when life is organized as a series of excursions, long or short, from the secure base provided by our attachment figures.»
Oder auf gut Deutsch: Glücklich sind wir, wenn wir uns in Sicherheit wissen. Fehlt diese sichere Basis in der Kindheit, wird das Leben zur Expedition mit unklarer Karte – und jede Beziehung im Erwachsenenalter zum (meist unbewussten) und (meist zum Scheitern verurteilten) Versuch, sie zu rekonstruieren.
Was Sie fühlen durften – und was nicht
Viele von uns sind nicht traumatisiert worden, im klassischen Sinn. Kein Krieg, kein Missbrauch, keine körperliche Gewalt. Und trotzdem leben viele mit Bindungstrauma – subtil, oft unsichtbar: emotionale Unerreichbarkeit, Überforderung, ständiges Leistungsprinzip, Liebesentzug und Drohungen als Erziehungsstil.
«Man kann nicht nicht geprägt werden», schreibt die Psychologin Stefanie Stahl in dem Bestseller «Das Kind in dir muss Heimat finden». Und je nachdem, welche Emotionen Sie als Kind leben durften – oder eben nicht –, entstehen innere Verbote:
«Sei nicht traurig / wütend.»
«Reiss dich zusammen.»
«Streng dich mehr an, dann klappt es auch.»
Diese Sätze sind keine Erinnerung – sie sind zu inneren Programmen geworden. Und aus Programmen werden Muster. Aus Mustern wird – vermeintlich – Persönlichkeit. Denn diese Muster sind nicht unser wahres Selbst.
Sie sind Überlebensstrategien, die sich wie Schichten über unser Innerstes legen. Bei vielen Menschen sind es so viele Schichten, dass das eigentliche Selbst kaum noch durchscheinen kann.

Wenn wir authentisch leben und uns selbst wirklich finden wollen, geht es nicht darum, diese Muster wegzudrücken – sondern sie zuerst zu erkennen, ihnen mit Mitgefühl zu begegnen und all das, was darunter liegt, Schritt für Schritt zu integrieren.
Erst dann entsteht Raum für das, was man vielleicht ein «holistisches Selbst» nennen kann – ein Leben aus innerer Wahrheit statt aus alten Schutzmechanismen.
Abspaltung: Der innere Winterschlaf der Gefühle
Die moderne Trauma-Forschung weiss längst: Der Mensch spaltet ab, was zu viel ist.
Bessel van der Kolk, führender Psychiater und Autor des Bestsellers «The Body Keeps the Score», beschreibt eindrucksvoll, wie das Gehirn bei emotionaler Überforderung ganze Erlebniswelten «einfriert» – um zu überleben.
Das Problem ist nur: Wir vergessen mit der Zeit, dass da etwas fehlt. Und so leben wir weiter – mit diesen abgespaltenen Teilen, die sich nur noch als dumpfes Unwohlsein melden. Oder als chronische Überanpassung. Oder als ständiges Bedürfnis, «es allen recht zu machen».
Denn was damals nicht gefühlt werden durfte, wird heute konsequent vermieden.
Wie das bei mir aussah: Bombe auf zwei Beinen
Ich weiss das nicht nur aus Büchern – ich war selbst so ein wandelndes Sammelsurium abgespaltener Anteile. Bevor ich überhaupt wusste, dass ich mit sogenannten «Exiles» unterwegs war – im IFS nennt man so die verstossenen inneren Anteile – war ich: freundlich, erfolgreich, sozial – normal. Und innerlich eine tickende Bombe.
Ich hatte keine Kontrolle. Nicht über meine Reaktionen, nicht über mein Nervensystem, nicht über das Chaos dahinter. Ich war nicht handlungsfähig – ich war ferngesteuert. Im Notfallmodus.
Trigger – also kleine äussere Reize, grosse innere Wirkung – haben mich regelmässig rauskatapultiert. Ein harmloses «Du brauchst mehr Disziplin» reichte. Oder ein «Du willst immer zu viel, sei doch mal bescheiden». Zack, Volltreffer. Nicht ins Ego. Sondern direkt in die alte Wunde: emotionale Bedürftigkeit, früher abgestraft – heute noch unversorgt.
Und dann? Dann kam die Betäubung. Sucht als Ablenkung. Zum Runterfahren. Bis ich kapiert hab: Das Problem war nie das Aussen. Es war das, was ich in mir nicht sehen konnte.

Erst als ich anfing, diese abgespaltenen Teile nicht nur zu verstehen, sondern wirklich zu fühlen, wurde es stiller. Handlungsfähig still. Denn Selbstverbindung ist kein «Mindset». Es ist Arbeit. Und zwar die einzige, die sich wirklich lohnt.
Was die Wissenschaft dazu sagt
Laut einer aktuellen Metaanalyse in Psychological Bulletin (Dagan et al., 2023) korrelieren unsichere Bindungsmuster aus der Kindheit signifikant mit Symptomen wie Angststörungen, Depressionen und chronischer Dysregulation.
Menschen mit vermeidendem oder ängstlich-ambivalentem Bindungsstil zeigen ein erhöhtes Mass an innerer Instabilität – besonders, wenn ihre emotionalen Grundbedürfnisse in der Kindheit systematisch ignoriert oder übergangen wurden.
Oder wie Dr. Gabor Maté es ausdrückt: «We tend to confuse self-knowledge with self-awareness, but trauma blinds us to both.»
Wir wissen vieles – aber wir fühlen es nicht. Und solange wir uns selbst nicht fühlen können, leben wir ein Leben auf halber Frequenz.
Was hilft? Kein neues Mindset – sondern Rückverbindung
Die gute Nachricht: Was gelernt wurde, lässt sich auch umlernen. Das Gehirn ist plastisch. Alte Muster lassen sich überschreiben. Aber nicht durch Podcasts, Mindset-Coaching oder die neueste Morgenroutine.
Sondern durch ehrliche Innenschau, durch das Annehmen und Integrieren der Gefühle, die man einst aus dem System werfen musste, um zu überleben.
Internal Family Systems (IFS), Somatic Experiencing, körperorientierte Psychotherapie – sie alle helfen dabei, die abgespaltenen Teile zurück ins System zu holen. Nicht, um «besser zu funktionieren», sondern um endlich wieder authentisch zu leben.
Sie sind nicht falsch. Sie sind geprägt.
Wenn Sie sich also wieder mal fragen, warum Sie in Situationen geraten, die Sie längst hinter sich glaubten – dann fragen Sie nicht: «Warum schon wieder?», sondern:
«Wer in mir entscheidet da gerade?» Denn vielleicht war’s gar nicht der Erwachsene in Ihnen. Sondern ein verletzter Anteil aus Ihrer Kindheit, der einfach nur endlich gesehen werden will.

Zugegeben: Sich selbst ehrlich zu begegnen, fühlt sich anfangs ungefähr so angenehm an wie ein Zahnarztbesuch ohne Betäubung. Es ist unbequem, dauert, und man will am liebsten wegrennen. Aber ich mache das jetzt seit fast zwei Jahrzehnten – und kann Ihnen versprechen: Es wird leichter.
Und mit etwas Übung kann man sogar Freude daran entwickeln – weil man spürt, wie man mit jedem integrierten Exiled Part ein Stück ganzer wird. Es gibt kaum etwas Erfüllenderes, als sich selbst beim Heilen zuzusehen. Auch wenn’s manchmal echt wehtut.
Über die Autorin
Judith Heede ist eine deutsche Autorin, die sich seit über 20 Jahren intensiv mit dem Thema mentale Gesundheit auseinandersetzt. Als ausgebildete Journalistin schreibt sie heute für verschiedene Medien über Mental Health und arbeitet als Motivational Speaker.
Mehr Gedanken und persönliche Erfahrungen zu diesem Weg finden Sie auf ihrem Blog TheIrelandWriter.com. Neben ihrer praktischen Arbeit vertieft sie ihr Wissen kontinuierlich – unter anderem durch Master-Events der University of Oxford zu Trauma, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden.