Johnson: «Hohe Wahrscheinlichkeit» eines No-Deal-Brexits

Nach einem Spitzentreffen in Brüssel schien noch alles offen: London und Brüssel gaben sich eine letzte Frist für die Einigung auf einen Brexit-Handelspakt. Doch Stunden später schlägt Boris Johnson warnende Töne an.

Boris Johnson, Premierminister von Grossbritannien. Foto: Frank Augstein/AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Im Ringen mit der EU um einen Brexit-Handelspakt hat der britische Premierminister Boris Johnson die Hoffnungen auf einen Durchbruch massiv gedämpft.

«Ich denke, wir müssen uns sehr, sehr klar darüber sein, dass es nun eine hohe Wahrscheinlichkeit - eine hohe Wahrscheinlichkeit - gibt, dass wir eine Lösung haben werden, die eher der australischen Beziehung mit der EU entspricht als der kanadischen», sagte Johnson am Donnerstagabend in London. Alle müssten sich nun auf «die australische Option» vorbereiten - also Handel ohne Abkommen, wobei Zölle nach Regeln der Welthandelsorganisation fällig würden.

Noch läuft die letzte Frist für die Verhandlungen. Doch auch die Europäische Union rüstet sich für ein Scheitern des erhofften Brexit-Handelspakts. Um das befürchtete Chaos zur Jahreswende abzumildern, schlug EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mehrere Notmassnahmen für einen No-Deal-Brexit vor. Dabei geht es unter anderem darum, Flug- und Strassenverkehr sowie die Fischerei aufrechtzuerhalten. Die Zeit für eine Lösung ist kurz: «Wir werden am Sonntag eine Entscheidung treffen», sagte von der Leyen.

Am Mittwoch hatte die Kommissionschefin bei einem Abendessen rund drei Stunden mit Johnson verhandelt. Danach machten beide Seiten deutlich, dass die Unterschiede noch immer sehr gross seien. Die Knackpunkte haben sich seit Monaten nicht geändert: Fischerei, fairer Wettbewerb und die Frage, wie Vereinbarungen im Streitfall rechtlich durchgesetzt werden. Bis zum Sonntag sollen die Verhandlungsteams in Brüssel nun versuchen, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Das Menü, das von der Leyen zum Dinner servieren liess, werdeten viele als Anspielung auf die ewigen Konfliktpunkte. Im Mittelpunkt: Fisch. Gedünsteter Steinbutt zum Hauptgang, zuvor Jakobsmuscheln - um die noch vor knapp zwei Jahren ein heftiger Streit zwischen französischen und britischen Fischern im Ärmelkanal tobte. Es war damals so schlimm, dass die Marine ausrückte. Britische Medien schrieben vom «Jakobsmuschel-Krieg». Auch beim Nachtisch wurden Beobachter fündig: Pavlova - eine mit Früchten gefüllte Sahnetorte - gilt als australisches Nationalgericht, passend zu den «australischen Konditionen».

Aus London hiess es am Donnerstag, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Gespräche auch nach Sonntag fortgesetzt würden. Johnson deutete auch die Möglichkeit weiterer Gespräche mit Kanzlerin Angela Merkel oder Frankreichs Präsident Emmanue Macron an: «Ich werde nach Brüssel gehen, ich werde nach Paris gehen, ich werde nach Berlin gehen, ich werde wo auch immer hingehen, um einen Deal nach Hause zu bringen.»

Auf dem Papier hat Grossbritannien die EU bereits Ende Januar verlassen. De facto hat sich noch nicht viel geändert. Die Brexit-Übergangsphase läuft aber zum Jahreswechsel aus. Ohne Vertrag drohen Zölle, lange Staus und andere Handelshürden. Angesichts der verhakten Verhandlungen stellt sich auch die EU nun langsam auf das No-Deal-Szenario ein. «Wir müssen vorbereitet sein - auch darauf, dass am 1. Januar kein Vertrag in Kraft ist», sagte von der Leyen.

Für den Fall des Scheiterns sehen die von der EU vorgelegten Notmassnahmen unter anderem vor, bestimmte Flugverbindungen zwischen Grossbritannien und der EU für sechs Monate aufrechtzuerhalten - basierend auf Gegenseitigkeit. Eine ähnliche gegenseitige Regelung soll es geben, um Frachttransporte und Busverkehr am Laufen zu halten, ebenfalls für sechs Monate.

Für das politisch sehr umstrittene Thema Fischerei schlägt die EU-Kommission einen Rechtsrahmen vor, der bis zum 31. Dezember 2021 gelten soll - oder bis zu einem Fischereiabkommen mit Grossbritannien. Diese Vereinbarung soll den Zugang von britischen Fischkuttern in EU-Gewässer regeln und umgekehrt. Die Kommission kündigte an, eng mit dem Europaparlament und dem Ministerrat zusammenzuarbeiten, um die Regelungen noch vor dem 1. Januar 2021 in Kraft zu setzen.