Viel zu voll: Italiens Gefängnis-Debakel spitzt sich zu

Im berüchtigten Gefängnis Regina Coeli in Rom sind Dutzende Häftlinge wieder auf das Gefängnispersonal losgegangen. Einige Wächter wurden dabei verletzt.

Polizisten vor einem Gefängnis in Italien - AFP

Es ist ein Bild der Verwüstung, das nach der jüngsten Revolte im berüchtigten Gefängnis Regina Coeli in Rom bleibt: abgebrannte Campingkocher, völlig demolierte Möbelstücke und zerstörte Überwachungskameras. Dutzende Häftlinge gingen kürzlich wieder auf das Gefängnispersonal los und versetzten die Haftanstalt im Zentrum von Italiens Hauptstadt für mehrere Stunden in Ausnahmezustand. Einige Wächter wurden verletzt.

In Italiens Gefängnissen herrschen entsetzliche Zustände. Justizvollzugsanstalten sind masslos überfüllt und die Verhältnisse hinter den mit Stacheldraht gesicherten Mauern vielerorts miserabel. Die Gefängnis-Misere in dem Mittelmeerland ist ein bekanntes Problem, doch lange nicht mehr spitzte sie sich so zu wie diesen Sommer. Immer wieder kommt es hinter Gittern zu Aufständen von Häftlingen und Selbsttötungen häufen sich massiv.

Etwa 10.000 Häftlinge zu viel in den Gefängnissen

Die fast täglichen Berichte über Unruhen in den Gefängnissen oder die desaströsen hygienischen Zustände hatten schon kaum mehr Aufsehen erregt. Doch ein Bericht des Justizministeriums hatte es in sich und rückte das leidige Thema wieder in den Fokus: Mehr als 61.000 Menschen befinden sich derzeit in Italien in Haft. Die Kapazität der 189 Haftanstalten des Landes wird jedoch gerade einmal auf etwa 51.000 Plätze beziffert.

Dramatisch ist die Situation in den Grossstädten. Das Gefängnis Regina Coeli in Rom ist als Negativbeispiel bekannt. Derzeit leben dort gut 1.100 Häftlinge, es gibt aber nur Platz für 628. Das Gefängnis ist als Pulverfass bekannt. Ausschreitungen gehören zur Tagesordnung.

Die jüngste Revolte zeigt, wie sehr die Nerven in den Haftanstalten offensichtlich blank liegen. Über mehrere Stunden randalierten die Häftlinge. Ihnen ging es dabei laut Leo Beneduci von Osapp, der Gewerkschaft der Gefängnispolizei, um die Haftbedingungen. Aber auch interne Machtkämpfe unter den diversen ethnischen Gruppen hätten eine Rolle gespielt, sagt Beneduci. Nicht selten kommt es auch vor, dass Wärter bei Revolten krankenhausreif geprügelt werden.

Viele Haftanstalten sind mehr als 100 Jahre alt. Entsprechend marode sind sie. Das Gefängnis Regina Coeli wurde 1881 in Dienst gestellt. Das ursprüngliche Gebäude ist sogar noch zwei Jahrhunderte älter. Von der Fassade des im Ausgehviertel Trastevere gelegenen Gefängnisses bröckelt der Putz ab, die hohen Mauern sind mit Rissen übersät.

«In überfüllten Gefängnissen ist das Leben schlecht»

Nach einem Bericht der Gefangenenhilfsorganisation Antigone sind 31,3 Prozent der Häftlinge Ausländer. 4,3 Prozent sind Frauen. In Italien müssen Kinder bis zum sechsten Lebensjahr mit ihren Müttern deren Haftstrafen absitzen. Es fehlt an geeigneten Einrichtungen. Viele Mütter müssen daher mit ihren Kleinkindern in regulären Gefängnissen leben.

Die Überbelegung hat unmittelbare Folgen für die Häftlinge, aber auch für die Bediensteten. «Ein Gefängnis, in dem die Zahl der Häftlinge höher ist als die Zahl der regulären Plätze, ist ein Gefängnis, in dem das Leben schlecht ist», sagt Antigone-Präsident Patrizio Gonnella. In einem überfüllten Gefängnis könne nicht auf die individuellen Bedürfnisse der Inhaftierten eingegangen werden. «Der Gefangene wird immer mehr zu einer Nummer», berichtet Gonnella.

Fast jeden dritten Tag ein Suizid

Eine weitere Zahl hat in Italien für eine Welle der Empörung gesorgt: Seit Jahresbeginn haben sich fast 70 Gefangene das Leben genommen. Das bedeutet, dass fast jeden dritten Tag ein Suizid geschieht. Vergangenes Jahr gab es 85 Selbsttötungen. Womöglich wird der Rekord von 2023 dieses Jahr übertroffen. Organisationen und Experten schlagen Alarm.

Gonnella bezeichnet die Lage als «Zeit der Anspannung, des Leidens und des Todes». Erschwerend hinzu kämen die desaströsen hygienischen Zustände. Mancherorts gebe es kein fliessendes Wasser, Ungeziefer mache sich in den Zellen breit, Klimaanlagen fehlten im heissen Sommer und im Winter funktionierten Heizungen – wenn vorhanden – nur dürftig.

Der öffentliche Aufschrei hat Eindruck hinterlassen: Die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bewegte sich und brachte Anfang August das sogenannte Gefängnis-Dekret auf den Weg. Es sieht eine Vereinfachung der bürokratischen Verfahren zur Strafminderung sowie Entlassung in den Hausarrest mit einer elektronischen Fussfessel bei guter Führung vor.

Dies könnte ebenfalls für Häftlinge in U-Haft gelten. Auch sie könnten künftig im Hausarrest verbleiben. Das Dekret sieht zudem vor, dass Drogenabhängige und psychisch Kranke statt in Gefängnissen in Einrichtungen zur Therapie untergebracht werden. Ausserdem soll das Gefängnispersonal aufgestockt und Häftlingen sollen mehr und längere Telefonate erlaubt werden.

Amnestien für rechte Regierung keine Lösung

Frühere Regierungen versuchten, mit Teilamnestien gegenzusteuern. Auch heute fordert die Opposition Straferlasse, um die Gefängnisse zu entlasten. Dagegen sträubt sich die Rechtsregierung in Rom. Es würde nicht zu ihren «Law and Order»-Versprechen passen. «Eine Amnestie wäre ein Versagen des Staates», sagte Justizminister Carlo Nordio.

Hilfsorganisationen und Opposition kritisieren das Dekret der Regierung als Tropfen auf den heissen Stein. Italiens Gefängnis-Debakel sei lange bekannt. Sie bezweifeln, dass das Gefängnissystem mit einzelnen Dekreten schrittweise reformiert werden kann. Aus ihrer Sicht ist eine grundlegende Reform und radikale Überholung des ganzen Systems nötig.