Israel-Gaza-Krieg: Junge tragen plötzlich Kopftuch

Der Israel-Gaza-Krieg löst auch in der Schweiz vieles aus – gerade bei jungen Menschen. Einige identifizieren sich dadurch stärker mit dem Islam.

Innerhalb der Pro-Palästina-Bewegung setzen Konservative junge Menschen unter Druck, ein Kopftuch zu tragen. Abgebildet: eine Demo für Palästina an der ETH Zürich. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Israel-Gaza-Krieg beschäftigt junge Menschen in der Schweiz stark.
  • In der Palästina-Bewegung üben Strenggläubige Druck auf Junge aus, konservativer zu leben.
  • Einige identifizieren sich wegen des Kriegs aus eigener Motivation stärker mit dem Islam.

Farah B.* (24) wächst in der Schweiz auf. Ihre Familie stammt aus dem Libanon und Algerien, muslimisch geprägten Ländern.

Der Israel-Gaza-Krieg, der sich inzwischen auf den Libanon ausgeweitet hat, beschäftigt sie stark. Sie nimmt auch an Protesten für Palästina teil.

Und plötzlich trägt B. ein Kopftuch – zum Staunen ihrer Eltern, die nicht besonders religiös sind. Ähnlich war es bei Jamina S.*

Diese Fälle sind Nau.ch aus dem Kanton Bern bekannt. Doch die beiden Frauen sind mit ihrem Entscheid nicht allein.

Konservative in Palästina-Bewegung setzen Junge unter Druck

Georg Otto Schmid von der Religionsinformationsstelle Relinfo ist das Phänomen bekannt, wie er zu Nau.ch sagt.

«Innerhalb der Pro-Palästina-Bewegung gibt es Personen, die eine konservative Form des Islams leben. Wir haben von Fällen gehört, wo solche Personen junge Menschen mit muslimischen Wurzeln motivieren, eine konservativ-muslimische Praxis aufzunehmen.»

Dabei gehe es nach dem Motto: «So wie du bist, bist du ja keine richtige Muslima. Wenn du dazugehören willst, trage das Kopftuch

Auch Amir Dziri, Islamwissenschaftler an der Universität Freiburg, beobachtet, dass der Israel-Gaza-Krieg Auswirkungen auf die Religiosität hat.

«Bei einigen jungen Menschen aus muslimischen Familien führt der Krieg zu einer stärkeren politisch-kulturellen Selbstidentifikation mit dem Islam. Andere nutzen die spirituelle Seite des Islam, um die emotionale Belastung religiös aufzufangen.»

Kleidervorschriften haben «keinen Platz»

Druck von Aussen steht also nicht hinter jedem Entscheid, plötzlich religiöser zu leben.

Das betont auch Daniel Gemperli von der Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS) gegenüber Nau.ch: «Bestimmt ist der Antrieb, ein Kopftuch zu tragen, nicht bei allen Frauen derselbe. Von völliger Selbstbestimmtheit und religiöser Überzeugung über kulturelle Norm bis hin zur Pflicht gibt es wohl alles.»

Wichtig sei: «Kleidungsvorschriften, egal, ob dafür oder dagegen, haben in einer liberalen Gesellschaft keinen Platz.» Dziri betont zudem, dass ein plötzliches Kopftuch nicht schon Ausdruck einer Radikalisierung ist. «Die Entscheidungen können ja sehr wohl lange überlegt und mit der sozialen Umgebung abgestimmt sein.»

Jugendliche büssen wegen Druck Differenzierungsfähigkeit ein

Deutlich ist laut Dziri, dass der Israel-Gaza-Krieg junge Menschen, egal welcher Religion, ausserordentlich stark beschäftigt. «Dabei herrscht oftmals ein starker Druck, Partei zu ergreifen. Das kann dazu führen, dass Jugendliche an Differenzierungsfähigkeit einbüssen

Und wo die Differenzierungsfähigkeit abnimmt, kann das Risiko radikaler Einstellungen wachsen. «Das Radikalisierungsrisiko der 14- bis 18-Jährigen wird derzeit als höher eingeschätzt.»

Denn diese Gruppe bewege sich gerne in Computerspiel-Foren und in den sozialen Medien. «Und dort verzeichnet die Radikalisierungsforschung seit zwei bis drei Jahren eine grosse Dynamik.»

Umfrage

Wie positionierst du dich im Israel-Gaza-Krieg?

Ich stelle mich klar auf eine Seite.
48%
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43%

Das werde auch durch jüngste Fälle in der Schweiz belegt. Zur Erinnerung: Im März stach ein 15-jähriger IS-Anhänger in Zürich einen jüdischen Familienvater nieder und verletzte ihn lebensgefährlich.

Schmid ergänzt: «Die salafistische Propaganda hat sich in den letzten Jahren vor allem auf der Plattform Tiktok breitgemacht. Der Israel-Gaza-Krieg wird in diesem Zusammenhang intensiv ausgeschlachtet.»

Junge Muslime seit Israel-Gaza-Krieg «vermehrt ausgegrenzt»

Doch der Krieg hat noch andere Entwicklungen zur Folge, die eine zunehmende Religiosität oder gar Radikalisierung begünstigen können.

Daniel Gemperli von der Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS) sagt zu Nau.ch: «Wir beobachten einen Anstieg der Muslimfeindlichkeit.» Gerade muslimische oder als muslimisch wahrgenommene Jugendliche und junge Erwachsene würden «vermehrt ausgegrenzt».

Auch gegen Muslime ist es in den Monaten nach dem Ausbruch des Kriegs in der Schweiz zu Gewalttaten gekommen. Ein besonders schwerer Angriff ereignete sich in Bad Ragaz SG im März: Ein Nachbar attackierte einen Teenager und seinen Vater im Rollstuhl mit einem Messer und einer Machete.

Der Jugendliche zitierte den Täter später so: «Wir sind hier in einem deutschen, christlichen Land. Es gibt hier keinen Platz für Muslime.»

Ausgrenzung kann Radikalisierung fördern

Es gibt «Hinweise», dass Ausgrenzung Radikalisierung fördern kann, sagt Islamwissenschaftler Dziri. Religionsexperte Schmid geht noch weiter: «Wenn sich junge Menschen einer radikalen Bewegung anschliessen, spielt die Zugehörigkeit (fast) immer eine Rolle.»

Darauf würden islamistische Propagandisten sehr bewusst zielen. «Sie trichtern muslimischen Jugendlichen in der Schweiz ein, dass sie hier ohnehin keinen Platz in der Gesellschaft fänden. Dass die Gesellschaft sie nicht wolle.»

Dziri betont deshalb, wie wichtig Einbettung in Beziehungen, Freundschaften, Familien, Schulen und Arbeitsplätzen sei.

Beginnt jemand, zu missionieren, sollte man hinschauen

Und was tun, wenn man vermutet, dass das eigene Kind, eine Arbeitskollegin oder ein Schulgspänli plötzlich ins Extreme abdriftet?

Aufmerksam werden sollte man Dziri zufolge, wenn eine plötzliche Veränderung im Aussehen mit anderen Verhaltensänderungen einhergeht.

Umfrage

Beunruhigt es dich, wenn jemand in deinem Umfeld plötzlich religiös wird?

Ja.
56%
Nur, wenn es ins Extreme geht.
33%
Nein.
11%

«Etwa einem sozial anderen Auftreten nach Aussen. Beispielsweise, wenn jemand beginnt zu missionieren oder andere Menschen und ihre Werte nicht mehr toleriert.»

In solchen Fällen sollte man professionelle Hilfe aufsuchen – beispielsweise Fachstellen für Radikalisierung und Prävention.

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Brauchst du Hilfe?

Befürchtest du, dass sich jemand in deinem Umfeld radikalisiert? Die Anlaufstelle in deinem Kanton bietet Hilfe und Unterstützung: www.gegen-radikalisierung.ch/anlaufstellen

* Name von der Redaktion geändert.