Viel Tierleid hinter Schweizer Stalltüren
Wie gut ist unser Tierschutzgesetz? Aus internationaler Sicht gehört es zu den besten, heisst es oft. Doch es gebe viel zu ändern, schreibt Sentience Politics.
Das Wichtigste in Kürze
- Hierzulande heisst es oft, die Schweiz habe die besten Tierschutzgesetze der Welt.
- In einem Bericht konnte man kürzlich hinter die Türen eines BTS-Stalls schauen.
- Und die Bilder seien schockierend gewesen, schreibt Sentience Politics im Gastbeitrag.
So oft wie der Schweizer Bauernverband vom «besten Tierschutzgesetz der Welt» spricht, könnte man meinen, dass Schweizer Tiere ein besonders hohes Mass an Tierwohl geniessen. Aber ist das tatsächlich so?
Die Branchenverbände nehmen dieses Narrativ jedenfalls für sich ein – und propagieren in ihrer Werbung gerne unsere hohen Tierwohlstandards. Ein Beispiel dafür ist die Swissmilk-Kampagne, die damit wirbt, dass es Schweizer Milchkühen gut gehe, weil sie auch im Winter regelmässig Auslauf hätten. Auch Grossverteiler wie Coop und Migros sowie Labelprogramme wie «BioSuisse» und «IP» werben mit Begriffen wie «tierfreundlich» oder «Tierwohl».
SRF-«Kassensturz» nahm kürzlich das Tierhaltungskonzept «Besonders tierfreundliche Stallhaltung», kurz BTS, genauer unter die Lupe. Also nicht irgendwelche Ställe, sondern zertifizierte Hühnermastbetriebe, welche vom Bund Subventionen für diese Art der Stallhaltung erhalten.
Die Bilder aus der Sendung sind schwer zu ertragen. Sie zeigen Tausende Küken, die so schnell wachsen, dass sie Gelenkprobleme entwickeln. Die Tiere sind stark bewegungseingeschränkt, leiden unter Schmerzen und sterben oft an Durst und Hunger, bevor sie beim Schlachter abgeliefert werden.
Das wahrlich Erschreckende ist: Die gängigen Praktiken in diesen Ställen sind mit dem geltenden Tierschutzgesetz in Einklang. Es werden keine Gesetze gebrochen – für ihre Stallführung erhalten diese BTS-Betriebe gar Direktzahlungen vom Schweizer Staat – und damit von den Schweizer Steuerzahlenden.
Können wir also eine als «streng» bezeichnete Tierschutzgesetzgebung zwangsläufig mit hohem Tierwohl gleichsetzen?
Um diese Frage beantworten zu können, ist es wichtig, den grundsätzlichen Unterschied zwischen Tierwohl und Tierschutz zu verstehen. Beim Tierwohl wird eine Bewertung des physischen und/oder psychischen Zustandes von Tieren vorgenommen. Solche Bewertungen können dabei helfen, die Haltungsbedingungen von Tieren an ihre Bedürfnisse anzupassen.
Die Tierschutzgesetzgebung ist hingegen das Produkt einer Güterabwägung. Das heisst, dass dem Wohlbefinden eines Tieres immer ein Produktionsziel gegenübergestellt wird. Wie sehr man die Lebensqualität eines Tieres aus ökonomischen Gründen einschränken darf, ist eine Entscheidung, die wir im gesellschaftlichen Diskurs fällen.
Tierschutzgesetze sind also «moralische Grenzen», welche wir als Gesellschaft nicht unterschreiten wollen. Alles, was darunter liegt, gilt als Tierquälerei und kann bestraft werden. Alles, was darüber liegt, ist legal und wird akzeptiert. Diese Abwägung ist eine Repräsentation des aktuellen gesellschaftlichen Konsenses.
Die Tierschutzgesetzgebung ist ein Versuch, das Tierwohl gesetzlich zu schützen und legt somit die Minimalstandards einer Tierhaltung fest. Es mag sein, dass wir im internationalen Vergleich hohe Standards haben – isoliert betrachtet kann man anhand dieser Gesetze jedoch keine Rückschlüsse auf die Lebensqualität von Tieren ziehen.
Helfen uns Labels, um gegen Tierleid vorzugehen?
Es gibt Ansätze, welche die Lebensqualität von Tieren in der Landwirtschaft über die gesetzlichen Mindeststandards hinaus steigern sollen. Dazu gehören staatliche bzw. private Anreizsysteme wie das oben erwähnte Label BTS beziehungsweise IP und Bio Suisse.
Bäuerinnen und Bauern können ihre Ställe an die jeweiligen Richtlinien des Programms anpassen und erzielen dadurch einen höheren Marktpreis auf ihre Produkte. Die Intention ist es, dass sich Konsumierende ohne viel Vorwissen für «tierfreundliche» Produkte entscheiden können. Doch diese Ansätze haben verschiedene Probleme.
Der Mensch greift schon vor der Geburt der Tiere durch Züchtung in ihre Körperfunktionen und -formen ein. Die sogenannten Hybride zum Beispiel, welche hierzulande für die Pouletproduktion eingesetzt werden, haben eine genetische Ausstattung, die es ihnen erlaubt, innerhalb von 36 Tagen vom 60-Gramm-Küken zum Zwei-Kilogramm-Huhn heranzuwachsen.
Dieses rasante Wachstum führt zu enormen Einschränkungen der Lebensqualität – dazu gehören verformte Knochen, Gelenkschäden und allgemeine Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Wenn ein Tier durch extreme Züchtung in seinen normalen Lebensfunktionen stark eingeschränkt ist, können auch Auslaufmöglichkeiten nicht zu einem qualitativ hochwertigen Leben führen. Da oft die gleichen Legehybriden für die Label- und die Nicht-Label-Produktion eingesetzt werden, bleibt die Frage offen, wie viel besser das Leben der Labelhühner wirklich ist.
Nach der Geburt sind die Haltungsbedingungen – wie Platzverhältnisse, Chancen auf das Ausleben sozialer Kontakte, Futter- und Wasserverfügbarkeit und die Gesundheit – entscheidend für die Lebensqualität der Tiere. Diese Faktoren werden häufig in staatlichen Programmen und der Label-Produktion abgebildet.
Was hingegen selten abgebildet wird, ist die Schlachtung. In der Schweiz haben wir zwar Gesetze, welche Transport und Schlachtung von Tieren regeln. Trotzdem kommt das Tierwohl zu kurz. Methoden wie die CO2-Betäubung und Elektrotreiber, welche grosses Leid verursachen, sind in der Schweiz genauso wie im Ausland erlaubt – unabhängig davon, ob es sich bei den angelieferten Tieren um «Labeltiere» handelt oder nicht.
Was kann man tun?
Tierschutzgesetzgebungen sind ein guter Anhaltspunkt, um Tierhaltungsvorschriften zwischen verschiedenen Ländern zu vergleichen. In diesem Vergleich schneidet die Schweiz relativ gut ab. Wir haben die Grenze zwischen Tierquälerei und akzeptierter Tierhaltung höher als im Ausland angesetzt.
Wenn man jedoch die Schweiz isoliert betrachtet, ist alleine aufgrund der Gesetze nicht davon auszugehen, dass es den Schweizer Tieren tatsächlich gut geht. Wir haben zwar viele Labels in der Schweiz, die darauf ausgerichtet sind, die Bedingungen in den Schweizer Ställen zu verbessern – ob diese weit genug gehen, ist fragwürdig. Tierwohl fängt aber klar vor der Geburt an und hört erst mit der Schlachtung auf.
Fazit: Wir müssen unser Bewusstsein schärfen ...
Der Schweizer Tierschutz hat sich kritisch mit dem Tierschutzgesetz und den Tierwohl-Labels auseinandergesetzt. Er hat das Tierwohl in verschiedenen Haltungsformen (von den Mindeststandards nach Schweizer Gesetz bis zu «Demeter») bewertet. Seine Analyse zeigt, dass es beim Tierwohl noch sehr viel Luft nach oben gibt. Wer sich nicht vorstellen kann, auf Tierprodukte zu verzichten, kann sich am Label-Spiegel des Schweizer Tierschutzes orientieren, um Produkte auszusuchen, die weniger Tierleid verursachen.
...und die Politik muss griffiger werden!
Auch ein politischer Einsatz gegen gängige Haltungsbedingungen ist möglich. Aktuell ist mit der «Initiative gegen Massentierhaltung» eine wichtige Volksinitiative hängig, über welche das Schweizer Stimmvolk voraussichtlich 2023 abstimmen wird.
Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung wäre auch eine Annahme der Trinkwasserinitiative, über welche am 13. Juni abgestimmt wird. Sie hätte einen signifikanten Einfluss auf die Lebensbedingungen von Nutztieren in der Schweiz. Denn eins ist klar: Eine gezielte Regulierung von Steuergeldern ist ein wichtiges Mittel, um eine zukunftsfähige, nachhaltige und tiergerechte Landwirtschaft mitzugestalten.
Zur Autorin: Johanna Kuhn ist Landwirtschafts- und Tierwohl-Expertin bei Sentience Politics.
Sentience Politics trägt die Interessen nicht menschlicher Tiere in die Mitte der Gesellschaft. Die Organisation möchte durch institutionelle Veränderungen dafür sorgen, dass auch das Leid nicht menschlicher Tiere möglichst effektiv minimiert wird. Dafür arbeitet Sentience Politics insbesondere mit den direktdemokratischen Mitteln, die uns in der Schweiz zur Verfügung stehen – namentlich Initiativen auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene.