Rennen ins Ungewisse: Formel 1 startet die Corona-Saison

Nie hat eine Formel-1-Saison so spät begonnen wie diese. Mit einem Notbetrieb will die Rennserie ihr Überleben sichern. Der Start in Österreich wird zur Prüfung für das strenge Hygienekonzept - und für den enttäuschten Sebastian Vettel.

Mercedes-Techniker arbeiten in Spielberg am Auto von Lewis Hamilton. Foto: Darko Bandic/AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Sebastian Vettel zupft Maske und Sonnenbrille zurecht, dann ist er bereit zum Dienstantritt beim Neustart der Formel 1.

Begleitet von sieben Ferrari-Ingenieuren beginnt der Hesse seine Begehung des Red Bull Rings, auf dem am Sonntag der erste Akt des Corona-Schauspiels der Rennserie aufgeführt wird. 49 Minuten später hat Vettel genug gesehen und schlendert zurück in die Garage, in der auch alle Mechaniker ständig Mundschutz tragen und überall Desinfektionsmittel stehen. «Die Zeit ist gekommen, um auf die Strecke zurückzukehren», sagt Vettel trotz der seltsamen Umstände - und trotz seines Frusts über die baldige Ausmusterung bei Ferrari.

«Überraschend» sei der Trennungs-Anruf von Teamchef Mattia Binotto im Mai für ihn gewesen, lässt Vettel unverblümt wissen. «Wir hatten nie eine Diskussion. Es lag nie ein Angebot auf dem Tisch», verrät der Heppenheimer, der am Freitag 33 Jahre alt wird und noch nicht weiss, was er nach Ablauf seines Vertrags bei der Scuderia in der nächsten Saison machen wird. Es sieht nach bitteren Abschiedsmonaten aus.

Denn die leeren Tribünen, die der viermalige Weltmeister auf seiner Inspektionsrunde am Donnerstag passiert hat, werden auch am Wochenende verwaist sein. Auf den akkurat gestutzten Campingplätzen stehen hier und da ein paar Kühe, wo sonst tausende Fans von Max Verstappen ein Meer von Orange ausgebreitet hätten. «Ohne die «Orange Army» wird es total anders sein - und ein bisschen komisch», sagt der niederländische Red-Bull-Pilot, zuletzt zweimal Sieger in Spielberg.

Sein Arbeitgeber, der Getränkegigant aus Österreich, hat viel in Bewegung gesetzt, um der Formel 1 in der Corona-Krise Anschubhilfe zu geben. Gleich die ersten beiden Grand Prix der verkürzten Saison werden innerhalb einer Woche in der Steiermark ausgetragen - so etwas hat es in der Geschichte der Motorsport-Königsklasse noch nie gegeben. Ein Novum ist auch das Startdatum: Nie begann eine Saison so spät wie in diesem Jahr.

Auf den Schock der kurzfristigen Absage des eigentlichen Auftakts in Melbourne Mitte März wegen eines Corona-Falls beim McLaren-Team folgte der wochenlange Stillstand. Zugesperrte Fabriken, Mechaniker und Ingenieure in Kurzarbeit, die Piloten im Wartestand. «Man lebte von Tag zu Tag ohne klares Ziel, die Motivation hochzuhalten war nicht einfach», sagt Red-Bull-Fahrer Alexander Albon.

Virtuelle Rennen und viel Fitnesstraining halfen nur bedingt gegen die Langeweile. «Natürlich habe ich das Rennfahren vermisst, aber es nicht zu dürfen, hat nur meine Liebe für das Fahren von Formel-1-Autos bestärkt», sagt Renault-Fahrer Daniel Ricciardo.

Und so hat sich die Rennserie einem strikten Hygienekonzept unterworfen, um sieben Monate nach dem bislang letzten Grand Prix wieder starten zu dürfen. Die Rennteams haben sich weitgehend isoliert, werden mindestens alle fünf Tage auf das Coronavirus getestet und sollen untereinander möglichst keinen Kontakt haben. Für jeden Rennstall gibt es eine eigene Unterkunft, der Zugang ins Fahrerlager ist nur wenigen erlaubt.

«Die ganze Formel 1 ist sich ihrer Verantwortung bewusst und ich bin überzeugt, dass die Regeln hier sehr ernst genommen werden», sagt Mercedes-Teamchef Toto Wolff und verspricht der örtlichen «Kleinen Zeitung», dass nicht ähnliche Bilder zu befürchten sind wie bei der nach mehreren Coronafällen abgebrochenen Adria-Tour der Tennisprofis.

Heisst: Auch wenn in Österreich die Maskenpflicht inzwischen deutlich gelockert ist und zum Beispiel nicht mehr in Geschäften gilt, geht die Formel 1 lieber auf Nummer sicher. Nicht einmal der Bürgermeister der 5000-Einwohner-Gemeinde Spielberg darf am Wochenende an die Rennstrecke, über die eine stählerne Bullenskulptur wacht. Nur ein weiblicher Fan hat sich am Donnerstag an der Streckeneinfahrt verloren und winkt den vorbeirollenden Autos zu. Das Schild «Welcome Race Fans» am Parkplatz ist gerade aus der Zeit gefallen.

Die Saison ganz abzusagen, das aber war keine echte Option für die Vollgas-Branche. «Alle haben derzeit grosse Umsatzeinbrüche. Bei vielen kleineren Teams geht es ums Überleben. Da müssen wir alle zusammenhalten», sagt Mercedes-Teamchef Wolff. Das Banner «We race as one», das die leere Haupttribüne bedeckt, darf auch als Zeichen innerer Solidarität der PS-Gemeinde verstanden werden. Mindestens 15 Rennen sind nötig, um die TV- und Sponsorengelder weitgehend zu retten. Wenn es sein muss, dann eben im Notbetrieb ohne Zuschauer.

«Ich denke, wenn die Startampeln ausgehen und wir uns auf unsere Autos und den Wettbewerb konzentrieren, dann geht es nur noch um das, was auf der Strecke passiert», versichert Red-Bull-Teamchef Christian Horner. Der Brite setzt auf den Heimvorteil seines Teams und hofft, dass sein Jungstar Verstappen mit Siegen gleich zu Beginn den erneut favorisierten Titelverteidiger Lewis Hamilton unter Druck setzt.

Nicht wenige meinen, dass dieses Duell die Saison prägen könnte. Der 22 Jahre alte Verstappen kann nur noch dieses Jahr Vettel die Bestmarke des jüngsten Weltmeisters entreissen. Mercedes-Pilot Hamilton (35) indes strebt seinem siebten WM-Triumph entgegen und würde damit den Rekord von Michael Schumacher einstellen.

«Der WM-Titel würde mehr für mich bedeuten in so einem aussergewöhnlichen Jahr mitten in einer Pandemie und im Kampf für Gerechtigkeit und Gleichheit», sagt der Brite. Es sei gerade ein wichtiger Moment für die Menschheit, betont Hamilton und verweist auch auf seinen vehementen Einsatz für die anti-rassistische «Black-Lives-Matter»-Bewegung.

Nach der langen Zwangspause und vier Monate nach den Wintertests in Barcelona aber ist die Ungewissheit vor dem Auftakt grösser denn je. «Die Wahrheit ist, dass vor dem Start einer so ungewöhnlichen Saison der Versuch von Prognosen noch sinnloser als sonst ist», meint Ferrari-Teamchef Binotto. Eins aber hat er selbst schon eingeräumt: Die Scuderia wird der Konkurrenz vermutlich vorerst wieder hinterherfahren. Als wäre der Beginn seiner Abschiedstour bei Ferrari für Sebastian Vettel nicht schon schwer genug.

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