Feministinnen schockiert über «Stealthing»-Bundesgerichtsurteile

Elisa Jeanneret
Elisa Jeanneret

Bern,

Das Bundesgericht hat zwei Urteile zum Tatbestand «Stealthing» getroffen. Im heutigen Sexualstrafrecht ist es bloss sexuelle Belästigung und keine Schändung.

lisa Mazzone Ständerat Schändung
Ständerätin Lisa Mazzone (Grüne/GE). Sie hält die Bundesgerichtsurteile zu stealthing für unangemessen. - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Das heimliche Abziehen des Kondoms während des Sex wird als «Stealthing» bezeichnet.
  • Nach geltendem Recht ist Stealthing keine Schändung, hat das Bundesgericht geurteilt.
  • Feministinnen pochen darum umso mehr auf die «Ja heisst Ja»-Lösung bei der Revision.

«Hingegen ist der Freispruch vom Vorwurf der Schändung zu bestätigen»: Das Bundesgericht hat am Donnerstag zwei wegweisende Urteile im Sexualbereich getroffen. Sie betreffen beide das «Stealthing», das Entfernen des Kondoms ohne Einwilligung des Sexualpartners. Fast immer sind Frauen betroffen, wenn Männer heimlich während des Sex das Kondom abziehen.

stealthing
Für ein «Stealthing»-Verbot fehlt in der Schweiz die Gesetzesgrundlage. (Symbolbild) - Pixabay

Zwei Fälle von Stealthing gingen also bis vor Bundesgericht, weil die Täter in früheren Urteilen freigesprochen wurden. Das aktuelle Sexualstrafrecht anerkennt nämlich Schändungen oder Vergewaltigungen nur als solche, wenn das Opfer widerstandsunfähig ist. Aufgrund dessen musste auch das Bundesgericht die Täter von Schändung freisprechen: «Die Fähigkeit zur Abwehr» des Opfers sei «als solche intakt» geblieben, steht in beiden Urteilen.

Das Bundesgericht anerkannte jedoch, dass die Aktion nicht einvernehmlich geschah. Deswegen sei zu prüfen, ob das Stealthing allenfalls unter der Strafnorm der sexuellen Belästigung verstanden werden könnte.

Einwilligungsprinzip im Strafrecht unerlässlich

Die beiden Urteile haben viel Aufmerksamkeit erhalten. Das ist wohl auch auf die Revision des Sexualstrafrechts zurückzuführen, die derzeit für Debatten sorgt. Léonore Porchet, Präsidentin der Organisation «Sexuelle Gesundheit» und Nationalrätin (Grüne/VD) spricht auf Anfrage Klartext: «Ich bin von den Urteilen des Bundesgerichts enttäuscht. Aber es ist auch ein Weg, um zu zeigen, dass die rechtliche Lage derzeit unzureichend ist.»

Léonore Porchet Sexualstrafrecht Schändung
Léonore Porchet (vorne) verfolgt mit anderen Nationalrätinnen die Debatte um das revidierte Sexualstrafrecht im Ständerat, 7. Juni 2022. - Keystone

Deswegen setzt sich Porchet für die «Ja heisst Ja»-Lösung ein. Sie sei sich nicht sicher, ob die «Nein heisst Nein»-Variante im Sexualstrafrecht Stealthing-Vorfälle auch als Schändung anerkennen würden: «Das ist eine Rechtsunsicherheit, die mich beunruhigt.»

Mit der von ihr bevorzugten Formulierung würden alle sexuelle Handlungen ohne Einwilligung als Übergriffe gelten, so Porchet. Aber die Nicht-Einwilligung bei Stealthing sei schwierig nachzuweisen. Dabei habe sogar das Bundesgericht geschrieben, «dass die Zustimmung der Opfer übertreten wurde», so die Waadtländerin.

Sexualstrafrecht Amnesty
Eine Protestaktion von Amnesty Schweiz für das «Nur Ja heisst Ja»-Prinzip im Sexualstrafrecht auf dem Bundesplatz, 30. Mai 2022. - Keystone

Deswegen sei das auch jene Lösung, die realitätsnah sei. «Und das ist das, was wir wollen: Ein Strafgesetzbuch, das der Realität von Vergewaltigung und sexueller Gewalt entspricht!»

Mit «Nein heisst Nein» würde Stealthing nicht unbedingt als Schändung gelten

Mehr Klarheit liefert Lisa Mazzone: Die Genfer Ständerätin (Grüne) verteidigte – vergeblich – die «Ja heisst Ja»-Lösung in der kleinen Kammer. Aus ihrer Sicht bestehe die Gefahr, dass Stealthing mit der «Nein heisst Nein»-Formulierung nicht als Schändung oder Vergewaltigung gelten würden.

«Zum Beispiel, wenn der Mann ein Kondom überzieht, ohne dass dies zwischen den Partnern vereinbart wurde», so Mazzone. Wenn er das Kondom dann heimlich abstreife, habe das Opfer nie Gelegenheit gehabt, «eine Ablehnung in irgendeiner Form zu äussern». Deswegen sei das Prinzip der Einwilligung so wichtig.

Lisa Mazzone Sexualstrafrecht Ständerat
Die grüne Ständerätin Lisa Mazzone kämpft in der kleinen Kammer für das «Nur Ja heisst Ja»-Prinzip im Sexualstrafrecht. - Keystone

Dass die Täter allenfalls der sexuellen Belästigung schuldig gesprochen werden könnten, hält Mazzone für unangemessen: «Es handelt sich definitiv nicht um Belästigung, sondern um Penetration. Aus diesem Grund ist eine Gesetzesänderung unerlässlich.»

Welche Variante der Vergewaltigungsdefinition bevorzugen Sie?

Werden die Urteile nun der Einwilligungslösung bei der Debatte im Nationalrat helfen? «Für mich ist klar: Diese Urteile liefern weitere Beweise dafür, dass wir die Version «Ja ist Ja» brauchen», antwortet Léonore Porchet. «Aber es gibt noch viel Widerstand, um zu einer Anerkennung aller Opfer zu gelangen.»

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