Wanderlust zeigt die Versuche eines Ehepaars sich sexuell zu öffnen
In «Wanderlust» versucht es ein Paar nach Jahrzehnten der Ehe mit einer offenen Beziehung. Die Serie überzeugt, erfindet das Rad jedoch nicht neu.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Netflix-Serie «Wanderlust» überzeugt mit starken Schauspielleistungen.
- Dadurch wirkt sie sehr authentisch und ehrlich.
- Weil sie sehr Dialog-basiert ist, wird sie hin und wieder etwas langatmig.
Wer bei «Wanderlust» eine Dokuserie über Ausflüge in die Alpen erwartet, wird leider enttäuscht werden. In der von der «BBC» mitproduzierten Netflix-Serie geht es um «wandering» in erster Linie im sexuellen Sinn. Und in der englischen Bedeutung von «ziellos Herumirren». Die Serie weiss mit einer glaubwürdigen Handlung und starken Schauspielleistungen zu überzeugen, wird aber streckenweise etwas langatmig und dialoglastig.
Die Geschichte
Wanderlust präsentiert ein ganzes Mosaik aus Beziehungsproblemen. Da ist die mittelalterliche Frau, die realisiert, dass sie lesbisch ist und sich scheiden lässt. Die junge Frau, die sich in einen Patienten ihrer Mutter verliebt. Der Teenager, der nicht realisiert, dass er eigentlich auf seine beste Freundin steht. Und natürlich im Zentrum: das Ehepaar Joy (Toni Collette, «Hereditary», «United States of Tara») und Alan (Steven Mackintosh, «Luther») Richards, die einander zwar noch lieben, aber nicht mehr miteinander schlafen.
Die erste Staffel beginnt mit so einem missglückten Versuch Sex zu haben. Frustriert wenden sich die beiden Protagonisten anderen Personen zu: einer Arbeitskollegin, einer zufälligen Bekanntschaft. Als sie sich die Seitensprünge gestehen, beschliessen sie, ihre Beziehung dadurch zu retten, dass sie sie öffnen.
Das klappt zunächst ganz passabel, aber Wanderlust begeht nicht den Fehler, einfache Lösungen für komplizierte Probleme zu präsentieren. Joy und Alan und werden nämlich bald von der Realität eingeholt. Ihre neuen Partner haben auch Gefühle, ihre (erwachsenen) Kinder verstehen nicht, was das alles soll. In ihrem privaten und professionellen Umfeld stossen die beiden auf Ablehnung.
Und vor allem: sie realisieren, dass sexuelle Offenheit erstens nicht das Allheilmittel für sämtliche Beziehungsprobleme ist und zweitens ihre ganz eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt.
Die Machart
Wanderlust ist die Netflix-Adaption eines Theaterstücks des britischen Bühnenautors Nick Payne. Und das merkt man. Wer viel Action erwartet, wird enttäuscht. Payne, der auch die Drehbücher für die sechs rund einstündigen Folgen geschrieben hat, erzählt die Geschichte weitgehend durch lange, teilweise eindeutig zu lange Dialoge.
Die Serie gibt sich Mühe, authentisch zu wirken. Charaktere verhaspeln sich, stottern, schweifen ab, beenden Sätze nicht. Das verleiht der Serie zwar eine gehörige Portion Realismus, wird aber mit der Zeit doch etwas mühsam und ist dicht an der Grenze, gezwungen zu wirken. Die Bettszenen sind dagegen erfrischend echt. Da gibt es keinen Hochglanz; Dinge gehen schief, Menschen sind unbeholfen.
Die Kamera-Einstellungen sind künstlerisch ansprechend und locker auf Kinofilm-Niveau. Oft bewegt sich in einer Szene nicht viel, wir sehen nur die Menschen, wie sie versuchen, sich auszudrücken und ihre Probleme zu bewältigen. In Dialogszenen dominieren ausdrucksvolle Nahaufnahmen.
Überragend ist auch der Soundtrack zur Serie. Gezielt eingesetzt, mal melancholisch, mal fröhlich untermalt er die Irrwege der Figuren meisterhaft.
Die Charaktere
Weil Wanderlust so dialog-zentriert ist, liegt enorm viel Verantwortung auf den Schauspielern. Und diese porträtieren ihre Charaktere überragend. Insbesondere Toni Collette brilliert in ihrer Rolle der Joy und trägt, vor allem gegen Ende der Staffel, den gesamten Cast mit. Joy ist eine "Frau von nebenan", von Beruf Psychotherapeutin, verheiratet mit dem "Normalo" Alan.
Dass sich die Serie des Klischees "Therapeutin geht selber in die Therapie und realisiert nicht, dass sie ähnliche Fehler hat, wie ihre eigenen Patienten", das unter anderem schon aus "In Treatment" und "The Sopranos" bekannt ist, bedient, stört nicht.
Im Gegenteil. Durch die Gegenüberstellung von Joy als Patientin und Joy als Therapeutin lernen wir viel über sie als Charakter und ihre Geschichte, die noch einiges mehr zu bieten halt, als ihre Eheprobleme. Das ist auch bitter nötig, denn der Plot ist auch schon so zu monothematisch auf Beziehungen fixiert.
Das gilt auch für die Nebencharaktere wie Arbeitskollegen und die Kinder des Paares, die, weil sie fast nur über ihre Liebesprobleme charakterisiert werden, leider sehr eindimensional bleiben.
Der beste Moment
Alan und Joy erklären ihren Kindern beim gemeinsamen Essen ihren neuen Beziehungsstatus. Ein peinlicher Sex-Talk der etwas anderen Art, in dem Toni Collette und Steven Mackintosh ihre ganze Schauspielkunst ausspielen können.
Sehenswert, weil...
Wer starke Schauspielleistungen, realistische, gut geschriebene Dialoge und tiefgründige Themen zu schätzen weiss, ist bei Wanderlust richtig. Die Serie erfindet das Rad in Bezug auf offene Beziehungen und Eheprobleme zwar nicht neu, ist aber trotz Klischee-Gefahr ehrlich, stellenweise witzig in der Fehlerhaftigkeit ihrer Charaktere durch und durch sympathisch.
★★★☆☆
Wanderlust ist seit dem 19. Oktober auf Netflix.