Coronavirus: SVP will Gottesdienste – Kirchen unschlüssig
Coiffeure und Baumärkte ja, Gottesdienste nein: Das stört Kirchenleute. Aber längst nicht alle. In Zeiten des Coronavirus auch ein Politikum.

Das Wichtigste in Kürze
- Gottesdienste sind vorläufig immer noch nicht erlaubt.
- Die Forderung an den Bundesrat, dies sofort zu ändern, wird nicht generell unterstützt.
- Einige stellen die Gesundheit in den Vordergrund: «Kirche ist mehr als Gottesdienst.»
Die Forderung im SVP-Editorial vom 30. April klingt ultimativ: «Der Bundesrat muss Gottesdienste ab sofort möglich machen.» Für Erich von Siebenthal, SVP-Nationalrat aus Saanen im Berner Oberland, sind die durch das Coronavirus bedingten digitalen Gottesdienste über längere Zeit kein gangbarer Weg.

«Beim Besuch des Gottesdienstes ist die Gemeinschaft geeint», weiss von Siebenthal. Die Schweiz tue gut daran, auch zukünftig auf den Namen Gottes zu Vertrauen. Auch auf die Bundesverfassung , so von Siebenthal, «wie auch auf den Schweizerpsalm, der aufruft: ‹Betet, freie Schweizer, betet.›» Doch nicht alle Kirchenvertreter unterstützen von Siebenthals Forderung.
Kirchen sind keine Baumärkte
Zwar nervt sich Michel Müller, Kirchenratspräsident der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, über den Bundesrat. Keine Gottesdienste, aber Coiffeure und Kosmetikerinnen dürfen wieder arbeiten. «Was soll denn ausgerechnet an Schönheitssalons so wichtig, offenbar fast ‹systemrelevant› sein?», fragt er in seinen Online-Gedanken zur ersten Lockerung.
Aber er sieht auch Chancen in der Krise: «Es ist eine Riesenchance, im digitalen Zeitalter anzukommen – vor drei Wochen hätte ich mich noch gegen alles gesträubt.»

Aus dem Bistum Chur kommt die explizite Forderung «zu einer umgehenden Lockerung der derzeit geltenden Massnahmen und zur Anerkennung des Schutzkonzeptes der Bischofskonferenz». Auch hier der Seitenhieb betreffend Verhältnismässigkeit, «spätestens seit Baumärkte geöffnet sind».
«Kirche ist mehr als nur Gottesdienst»
Auch aus den Verlautbarungen der Landeskirchen klingt zumindest zwischen den Zeilen an: Man ist nicht happy mit dem Bundesrat. Doch gerade in Bundeshaus-Nähe sind Kirchenvertreter nur bedingt einverstanden mit dem Begehren nach baldigen Gottesdiensten. Christian Walti, reformierter Pfarrer in Bern, sagt zu ref.ch: «Die Kirche sollte sich zurücknehmen und aus Solidarität mit allen Menschen auf Gottesdienste verzichten.»

Ähnlich sieht dies Karl Johannes Rechsteiner, Sprecher der Katholischen Kirche Bern: «Die Gesundheit der Menschen muss im Mittelpunkt stehen.» Die Kirche bestehe nicht nur aus Gottesdiensten, so Rechsteiner zu Nau.ch. Auch wenn diese wichtig seien als Feiern, «in denen die Kirche als Gemeinschaft spürbar und sichtbar ist».
Niemand spricht vom Millionen-Hilfspaket
Die Kirche zeige sich in vier Dimensionen, so Rechsteiner: Verkündigung, Gottesdienst, Soziales und Gemeinschaft. «Die Gemeinschaft hat jetzt auch Bestand, wenn zeitweise keine Gottesdienste stattfinden können.»
Gerade das soziale Engagement sei heute besonders gefragt. So habe die Katholische Kirche Region Bern innert einer Woche ein Millionen-Hilfspaket für Menschen am Rande der Gesellschaft lanciert. «Aber da drüber spricht dann kaum jemand.»

So kommt von der Krise besonders Betroffenen schnelle und unkomplizierte Hilfe zu. Zum Beispiel in Form von Ersatz-Angeboten für Familien mit behinderten Kindern. 100'000 Franken für die Obdachlosen-Hilfe «Wohnenbern»: Statt Restaurant betreibt diese jetzt einen Mahlzeiten-Lieferdienst. Weitere 100'000 für die Beratungsstelle Sexarbeit «Xenia», ebenso viel für Lebensmittelgutscheine und andere kirchliche Gassenarbeit.
Es menschelt auch «zu Zeiten des Coronavirus»
Doch Gottesdienste: Ja, aber nicht um jeden Preis – schon gar nicht auf Kosten der Gesundheit. Dass SVP-Mann Erich von Siebenthal ausgerechnet in diesem Punkt insistiert, ist aber dennoch verständlich. Im Berner Oberland dominieren Freikirchen, bei denen laut Volkszählung lediglich zwei Prozent der Bevölkerung Mitglied sind.

Doch knapp 200'000 Freikirchler besuchen normalerweise am Wochenende einen Gottesdienst, zeigt eine Nationalfonds-Studie. Das sind nur leicht weniger als bei den Katholiken und doppelt so viele wie bei den Reformierten.
Bei aller Solidarität, die im Frühling 2020 durchs Land weht: In gewissen Situationen ist der Mensch halt immer noch sich selbst am nächsten. Das gilt für weltliche wie für religiöse Amtsträger. So gibt auch Michel Müller zu, der wahre Vorteil von Online-Predigten sei, dass man auch vorwärts spulen könne. Und fast noch schlimmer: «Ich war am Montag als einer der Ersten beim Coiffeur.»