The Other Side of the Wind verwischt Realität und Fiktion
Mehr als 40 Jahre hat es bis zur Veröffentlichung des letzten Films von Orson Welles gedauert. Sein Werk ist hintergründig, zäh und faszinierend zugleich.
Das Wichtigste in Kürze
- «The Other Side of the Wind» ist der letzte Film von Orson Welles.
- Darin wird bruchstückhaft eine Geschichte über einen alternden Regisseur erzählt.
- Seit dem 2. November 2018 ist »The Other Side of The Wind» auf Netflix zu finden.
- «They'll Love Me When I'm Dead» veranschaulicht die lange Produktionsgeschichte.
- Die Dokumentation ergänzt den Spielfilm passend und ist ebenfalls auf Netflix vorhanden.
Der Name Orson Welles ist fest in der Kinokultur verankert. Der Amerikaner trat im Laufe seines Lebens als Erzähler, Regisseur und Schauspieler in Erscheinung. Bis zu seinem Tod am 10. Oktober 1985 hat er einige Projekte nicht fertiggestellt. Darunter befindet sich «The Other Side of the Wind». Die eigenwillige Satire auf das Filmgeschäft ist nach über 40 Jahren auf Netflix zu sehen.
Der Film innerhalb des Films
Jake Hannaford (John Huston) wird 70. Der spitzzüngige Regisseur schmeisst eine letzte grosse Feier. Zu diesem Anlass wird eine Rohfassung seines aktuellen Films «The Other Side of the Wind» vorgeführt. Eingeladen sind neben Kritikern auch Weggefährten wie Hannafords Schützling Brooks Otterlake (Peter Bogdanovich).
Die Handlung wechselt stets zwischen dem Geburtstagsfest und dem gezeigten Film ab. Darin geht es um eine mysteriöse Frau (Oja Kodar), welche von einem langhaarigen Mann (Bob Random) verfolgt wird. Die Vorführung wird zwischenzeitlich aufgrund fehlenden Stroms abgebrochen. Die Befindlichkeiten der Gäste werden mit fortschreitender Dauer auf die Probe gestellt.
Langwierige Produktion
«The Other Side of the Wind» beinhaltet zwei Filme in einem. Beide unterscheiden sich drastisch durch ihre eingesetzten Stilmittel und die technischen Darstellungsweisen. Der Wechsel zwischen schwarz-weiss und Farbe geschieht dabei jederzeit fliessend. Die parallel ebenfalls auf Netflix erschienene Dokumentation «They'll Love Me When I'm Dead» beschäftigt sich ausgiebig mit der Hintergrundgeschichte.
Welles entwickelte die Idee zum Projekt in den 1960er-Jahren. Die Dreharbeiten fanden zwischen 1971 bis 1975 statt. Finanzielle Schwierigkeiten stoppten jedoch den Abschluss des Films. So verschwand das vorhandene Material in einem Tresorraum in Paris.
Bis 2017 Netflix die weltweite Rechte daran erwarb. Der Produzent Frank Marshall («Indiana Jones») überwachte zusammen mit Welles langjährigem engem Freund, dem Regisseur Peter Bogdanovich («Paper Moon») den Prozess.
Editor Bob Murawski hat dabei aus den über 100-stündigen Materialien sowie hinterlassenen Anweisungen einen zweistündigen Film geschnitten. Das Ergebnis ist seit dem 2. November 2018 auf dem Streaming-Dienst verfügbar.
Wunderkind und Exzentriker zugleich
Zu seinen Lebzeiten war Orson Welles auf der einen Seite ein überaus respektierter Regisseur und musste andererseits stets mit zu hoher Erwartungshaltung umgehen. National bekannt wurde der Theaterschauspieler im Jahre 1938 mit dem von ihm inszenierten Hörspiel-Adaption von H. G. Wells «Krieg der Welten», welches im Radio auf hohe Resonanz stiess und ihm die Türen nach Los Angeles öffnete.
Als er als 25-jähriger das Drama «Citizen Kane» über einen Medienmogul drehte, lag Hollywood dem jungen Welles trotz eines verhältnismässig geringen Einspielergebnisses zu Füssen. Bis heute ist sein Name unabdingbar mit diesem Werk verknüpft. Dieser Umstand lastete auf ihn wie ein Fluch, weil er zeitlebens daran gemessen wurde.
«Im Zeichen des Bösen» war 1958 sein letzter Hollywood-Film. Enttäuscht von den Einmischungen der Produktionsstudios, ging er ins Exil nach Europa. Dort drehte er unter anderem fürs Kino und Fernsehen.
In späteren Jahren verschlechterte sich Welles körperliche Verfassung. Dazu kamen begonnene Projekte wie beispielsweise «Don Quixote», welche nie beendet wurden. Sein Vermächtnis ist eine halbfertige Mischung aus Genie und Exzentrik, was auch in seinem letzten Film sichtbar wird.
Zwischen fabelhaft und zäh
«The Other Side of the Wind» kann durchaus als Seitenhieb auf Hollywood angesehen werden. Unterstützt wird diese These dadurch, dass einige Regisseure (darunter Bogdanovich und Claude Chabrol) mitwirken. Leider kommt das Ganze nie wirklich in Fahrt, weil der Stil skizzenhaft zwischen Kunst, Jugendfilm, Komödie oder Thriller hin und her wechselt. Die Dialoge sollen die Oberflächlichkeit der feinen Gesellschaft aufs Korn nehmen, dies klappt allerdings nicht immer. Besonders der Beginn gerät geschwätzig und zäh.
Mit kontinuierlicher Laufzeit entfaltet sich ein kurioses Seherlebnis. Wenn beispielsweise die Szenerie in eine schäbige Kneipe voller Hippies wechselt und die Musik vom Jazz in treibenden Rock 'n' Roll umschlägt, entsteht eine fabelhaft inszenierte Verfolgungsjagd. Eine spätere Konfrontation zwischen der Hauptfigur und einem Lehrer gerät zum humoristischen Zwischenspiel. Huston beweist in solchen Momenten, dass er die ideale Besetzung für die Hauptrolle ist.
Fazit
«The Other Side of the Wind» ist ein facettenreiches Dokument aus einer vergangenen Zeit der Filmindustrie. Das ambitionierte Werk ist hektisch geschnitten, bruchstückhaft erzählt und stellt den Zuschauer dadurch auf die Probe. Ob es sich nun um eine Satire auf europäische Kunstfilme handelt oder den damaligen Zeitgeist kritisiert, soll jeder für sich selbst entscheiden. Für Cineasten bietet die doppelbödige Handlung einen Springbrunnen voller Interpretationsmöglichkeiten.
Wer dagegen leichte Unterhaltung sucht, wird alleine durch die vielen Schnitte und den fehlenden Mangel an Charakterisierung abgeschreckt. Deshalb sei empfohlen, sich zusätzlich die zeitgleich ebenfalls auf Netflix veröffentlichte Dokumentation «They'll Love Me When I'm Dead» anzuschauen. Diese rekonstruiert mithilfe von Gesprächen und Archivmaterialien informativ die komplizierte Produktionsgeschichte. Sie ist die passende Ergänzung zum zerstreut wirkenden Film.
★★★★☆
Die Bewertung bezieht sich auf das Gesamtpaket, bestehend aus dem Spielfilm (★★★☆☆) und der Dokumentation (★★★★☆).