Zu Besuch im ersten zertifizierten Winterwanderdorf
Im wenig bekannten Osttirol lädt ein sanftes Tourismuskonzept zum nachhaltigen Ferienerlebnis. Beispielsweise in Kartitsch.
Das Wichtigste in Kürze
- Kartitsch im Osttirol (AT) ist das erste zertifizierte Winterwanderdorf Österreichs.
- Vor Ort gibt es keinen Massentourismus und keine grossen Hotelketten.
- Dafür treffen wir beim Besuch auf einen Nachtwächter mit Hellebarde.
In Innsbruck, wo unsere Reise beginnt, liegt kein Schnee. Die berühmte Bergisel-Schanze steht verloren zwischen grünen Tannen und braunem Felsen.
In den Nachrichten sind in diesen Tagen Bilder von erbärmlichen Skipisten zu sehen, von schmalen, weissen Streifen auf schneefreien Wiesen – ein Sinnbild für den menschengemachten Klimawandel.
Aber was kann ein Ort tun, der auf den Wintertourismus angewiesen ist? Wenn mit dem Schnee auch die Touristen wegbleiben?
Glitzerndes Winterwunderland
Die Landschaft wird weisser, je weiter wir Innsbruck hinter uns lassen und Richtung Südosten fahren. Drei Stunden und achthundert Höhenmeter später finden wir uns in einem glitzernden Winterwunderland wieder.
Ein Kirchturm überragt eine kleine Ansammlung von Häusern, die Abendsonne wirft goldene Schatten über die Gipfel, die das Tal umgeben. Willkommen in Kartitsch, das 2018 als erstes Winterwanderdorf Österreichs zertifiziert wurde.
Kein Massentourismus, keine grossen Hotelketten
Der Osttiroler Tourismusverband versucht, in der Region einen «sanften Tourismus» zu fördern. Kein Massentourismus, keine grossen Hotelketten, sondern nachhaltige Angebote, die im Einklang mit der Natur funktionieren.
Winterwandern, Waldbaden und nächtliche Dorfspaziergänge ergänzen das klassische Winterangebot.
Kartitsch ist einer dieser Ortsnamen, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Probieren Sie’s mal laut. Kar-titsch. Na, schmeckts? – Lassen Sie es mich anders erklären:
In Kartitsch gibt es nach Omas hausgemachten Schlutzkrapfen einen Polsterzipf zur Nachspeise, dazu einen kleinen Verlängata und zur Abrundung des Abends ein gut gefülltes Glas Marillenschnaps.
Sie haben keines dieser Worte verstanden? Machen Sie sich nichts draus. Besser ist’s und isst sich’s im Osttirol sowieso ganz unvoreingenommen.
Wie eine Zeitreise
Würde ein Zeitreisender aus dem frühen 20. Jahrhundert in das heutige Osttirol geschleudert, er würde die Dörfer und Täler sofort wiedererkennen. Viele Brauchtümer haben die Jahre überstanden und auch den alten Bauernhäusern, Ställen und Scheunen konnten Wind und Wetter nichts anhaben.
In Obertilliach, keine zehn Kilometer von Kartitsch entfernt, macht sogar bis heute ein Nachtwächter, der einzige in ganz Österreich, seine abendlichen Runden durch das Haufendorf.
Der Nachtwächter von Obertilliach
Josef Lugger trägt einen Lodenmantel über der Winterjacke und hält eine Laterne in der einen, eine Hellebarde in der anderen Hand.
Die Holzhäuser wurden früher eng aneinandergebaut, um das Dorf besser gegen einfallende Feinde verteidigen zu können. Das verschaffte jedoch einem ganz anderen Feind einen zerstörerischen Vorteil: dem Feuer.
Der Obertilliacher Nachtwächter prüfte auf seinen Runden, ob alle Lichter ausgemacht waren, und warnte die Leute, wenn Gefahr drohte. Auch wenn seine Funktion heute mehr der Nostalgie dient, schafft es der Nachtwächter immer noch, manches Feuer im Keim zu ersticken.
Gasthaus wie vor hundert Jahren
«Komm, i lod di auf a Bia ei!», ruft eine Stimme aus dem beleuchteten Gasthaus in der Dorfmitte. Lugger ruft zurück, ja, er komme gleich. Draussen herrschen minus zehn Grad, der Atem bleibt vor dem Gesicht hängen.
Das Gasthaus verspricht eine Wärme, die sich in hundert Jahren nicht verändert hat. Am Ende jedes Tages lockt doch immer die gute Gesellschaft.
Sonne über dem Dorfberg
Kartitsch ist von den Ausläufern der Lienzer Dolomiten und der Karnischen Alpen umgeben und liegt am Anfang des Gailtals auf 1’356 Metern Höhe. Neun Winterwanderwege führen von Kartitsch durch die umliegende Bergwelt. Einer davon ist der Weitwanderweg zum Dorfberg.
Eine gedämpfte Stille liegt über dem Wald. Die Schritte knarzen im Schnee. Es ist das Geräusch der Eiskristalle, die zerbrechen. Ein schauriger Gedanke, aber auch ein schöner, dass der Boden übersät ist mit Kristallen. Sie haften bald auch an Schals, Mützen und Haaren.
Die Minusgrade bedeuten, dass alles zu Eis wird, woran der feuchte Atem hängen bleibt. Der Schnee macht jeden Schritt schwerer, als unsere Füsse es sich gewohnt sind.
Von oben drückt ein grauer Himmel. Kommt man aber erst beim Gipfelkreuz auf 1'820 Meter an, durchbricht man plötzlich die Wolkendecke und erkennt, dass der Himmel die ganze Zeit blau war.
Zirbenschnaps und Krapfen
«Machen Sie nicht zu viel Werbung für uns», mahnt der Wirt einer Gaststätte in Kartitsch. Das Wirtshaus sei zu klein, um Massen an Touristen zu füttern. Aus der Musikanlage tönt Rainhard Fendrich: «Weusd' a Herz hast wie a Bergwerk, wesd′ a Wahnsinn bist fia mi!»
Der Wirt schmunzelt, verschwindet hinter dem Tresen und kehrt mit Zirbenschnaps und süssen Krapfen wieder zurück. Durch die Fenster fällt die Nachmittagssonne, und selbst von hier drin kann man die Schneekristalle glitzern sehen.
Die Welt ist hier nicht heiler als andernorts, aber in dem Moment möchte man glauben, dass das alles ist, was man im Leben wirklich braucht: Einen weissen Winter, einen klaren Schnaps nach einem schweren Mittagessen und ein Fenster, durch das man die Berge sieht.