Afghanistans Parlament kämpft mit negativer Angewohnheit
Das Wichtigste in Kürze
- Am Samstag wählt Afghanistan ein neues Parlament – mit dreieinhalb Jahren Verspätung.
- Viele Abgeordnete jedoch bleiben der parlamentarischen Arbeit fern.
Jeden Morgen, noch vor acht Uhr, bildet sich im Süden Kabuls eine Menschenschlange. Studenten, ältere Menschen, Witwen, Angestellte – sie alle stehen im Schatten des prominenten Gebäudes mit der massiven goldenen Kuppel: des afghanischen Parlaments. Unruhig von einem Fuss auf den anderen tretend versuchen sie, vor Sitzungsbeginn ihre vorbeihuschenden Volksvertreter abzupassen.
Allerdings findet sich meist nur ein Parlamentarier ein, der gewillt ist, sie anzuhören: Ramasan Baschardust. Der 56-jährige ehemalige Planungsminister stellt sich jeden Morgen der Menge. Er nimmt Briefe entgegen, bringt sie wie ein Laufbursche in die zuständigen Parlamentsausschüsse oder nimmt die Menschen selbst an die Hand und führt sie zu den Vertretern ihrer Heimatprovinzen.
Nicht wirklich beliebt
Manche Parlamentarier bedanken sich bei Baschardust, andere rümpfen die Nase. Wirklich beliebt ist der umtriebige Baschardust bei seinen 249 Kollegen in der Wolesi Dschirga, dem «Haus des Volkes», nicht.
Doch Baschardust wird bald neue Kollegen haben, und er selbst hofft, dass diese ambitionierter sind als seine bisherigen. Am Samstag wählt Afghanistan mit drei Jahren Verspätung ein neues Parlament. Mehr als 2500 Kandidaten, darunter rund 400 Frauen, kämpfen um die Sitze in der Wolesi Dschirga. Gewählt werden nicht Parteien, sondern Einzelpersonen als Vertreter der jeweiligen Provinz. Auch Baschardust stellt sich der Wiederwahl für die Provinz Kabul.
Dem Papier nach viel Macht
Grössere Ambitionen seiner künftigen Kollegen wünscht sich Baschardust vor allem, weil er frustriert ist, dass das Parlament seiner Rolle in der afghanischen Demokratie nicht annähernd nachkommt. Dem Papier nach hätte es viel Macht. Die Verfassung sieht es als relativ starke Legislative vor, gedacht als Gegengewicht zu einer sehr zentralisierten Exekutive, dem «Palast», wie man in Afghanistan sagt. Es kann den Präsidenten im Palast zur Verantwortung ziehen, muss dem Budget zustimmen und jeden Minister bestätigen.
Doch mittlerweile ist es fast zur Tradition geworden, dass sich der Präsident nicht um das Parlament schert oder dass er gar versucht, es zu manipulieren. Angehende Minister korrumpieren es selbst: Vor Abstimmungen über ihre Posten schicken sie Packen Dollarscheine an die Abgeordneten, um sich so ihre Zustimmung zu erkaufen.
Dass das Parlament heute eine sehr begrenzte Rolle spielt, liegt wohl auch daran, dass der Grossteil der Parlamentarier in den vergangenen Jahren seiner eigentlichen Aufgabe einfach fernblieb. Bilder aus dem Parlament offenbaren gähnende Leere. Allzu oft können Gesetze nicht beschlossen werden, weil das Anwesenheitsquorum nicht erreicht wird. Im Schnitt würden 150 Parlamentarier fehlen. «Dabei arbeiten wir ohnehin nur Teilzeit», sagt Baschardust mit Verweis darauf, dass die Sitzungen im Parlament oder die Arbeit in den Kommissionen lediglich von 9 bis 12 Uhr dauern würden.
«Die haben ihre Büros nicht einmal betreten»
«Es gibt Parlamentarier, die in den vergangenen siebeneinhalb Jahren nicht einmal ins Haus gekommen sind», sagt Baschardust erbost. Unweit des Parlamentsgebäudes, wo jeder Parlamentarier vom Staat ein Büro zur Verfügung hat, zeigt er auf versiegelte Türen. «Schauen Sie, die haben ihre Büros nicht einmal betreten», sagt er und schüttelt den Kopf. «Dabei sollen sie sich nach den Sitzungen am Vormittag eigentlich hier den Anliegen der Menschen widmen.»
Dabei habe die Bevölkerung vielfältigste Anliegen, die zu lösen wären. Bei Baschardust finden sich Afghanen ein, die Probleme mit Richtern und Behörden haben, deren Löhne nicht gezahlt wurden oder deren Land oder Häuser von Kriegsfürsten gekapert wurden. Die Menschen wünschen sich sogar, dass der Parlamentarier für sie persönliche Probleme löst: Verlassene Ehemänner etwa bitten ihn, ihre Frauen zu überreden, in die Familie zurückzukehren.
Die fehlenden Ambitionen der Parlamentarier sowie weit verbreiteter Nepotismus würden auch die Qualität der Gesetzestexte beeinflussen. Ein Fünftel der Abgeordneten sei Analphabeten, was nicht sehr problematisch sei, sagt Baschardust. Problematischer sei vielmehr, dass sie keine qualifizierten Assistenten einstellen würden, sondern ihre Onkel oder Töchter. Auch in den Kommissionen fehlten ausreichend Parlamentarier, die gründlich arbeiteten, sagt Baschardust. So würden sich zahlreiche Gesetze heute widersprechen.
Geringe Erfolge erzielt
Baschardust muss lange darüber nachdenken, was der grösste Erfolg des Parlaments in den vergangenen siebeneinhalb Jahren war. Ausser der Erhöhung einer Rente für Behinderte von 4 auf 66 Dollar im Monat falle ihm nichts ein.
Für seine Kollegin Hilai Irschad ist der grösste Erfolg des Parlaments nicht einmal eine Kernaufgabe der Institution. Es sei vielmehr eine generelle Vorbildwirkung: Junge Mädchen und Frauen würden selbstbewusster auftreten, seit sie sehen würden, dass Frauen ihre Stimme im Parlament erheben.
Freilich mag viel von den Unzulänglichkeiten des aktuellen Parlaments auch mit der mangelnden politischen Erfahrung vieler Parlamentarier zusammenhängen. Doch auch die 50-jährige Irschad, Repräsentantin der Minderheit der Kutschi-Nomaden, lässt kein gutes Haar an ihren Kollegen. «50 Prozent sind Kriegsfürsten, ein weiteres Viertel sind Geschäftsleute und lediglich ein Viertel sind echte Volksvertreter», sagt sie.
Das werde sich mit dem neuen Parlament nicht grossartig ändern, befürchtet sie. Aktuell seien die Kriegsfürsten und Geschäftsleute damit beschäftigt, Stimmen zu kaufen. «Wenn die Regierung nicht aktiv wird und sie von der Liste wirft, wird das nächste Parlament noch schlimmer als das jetzige.»