Corona in Lateinamerika: Der neue Krisenherd
Während Europa die Pandemie langsam unter Kontrolle zu bekommen scheint, schlägt sie in der Region zwischen Feuerland und Rio Grande mit voller Kraft ein. Brasilien registriert die vierthöchste Anzahl Infizierter weltweit. Doch nicht jeder ist gleichstark betroffen.
Das Wichtigste in Kürze
- Polizisten auf Motorrädern und in Streifenwagen bahnen sich ihren Weg durch die Menge auf der Strandpromenade in Copacabana.
«Gehen Sie nach Hause!» schallt es aus den Lautsprechern. Doch die Menschen gehen an diesem sonnigen Samstag einfach weiter. Es ist - anders als in Deutschland und anderen europäischen Staaten, wo Tausende gegen Corona-Massnahmen auf die Strasse gehen - eine ungewöhnliche Gelassenheit, die in Brasilien herrscht.
Dafür, dass das Land zuletzt bei den Neu-Infizierten und den Corona-Toten jeweils einen Negativrekord nach dem anderen vermeldet hat, scheinen die Menschen wenig besorgt zu sein. Sie scheinen zu hoffen, dass das Virus an ihnen vorübergeht. Das grösste und mit 210 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas registrierte am Samstag 233 142 Infizierte - die vierthöchste Zahl weltweit.
Allein der brasilianische Bundesstaat São Paulo (4688) verzeichnet - wie Mexiko (mehr als 5000) - inzwischen mehr Todesfälle als China (4637). Wochen nach Europa trifft die Covid-19-Pandemie jetzt auch Lateinamerika mit voller Kraft, wo aber die Ausgangsbedingungen von vornherein schwieriger sind: Krankenhäuser sind unterfinanziert, Sozialsysteme schwach, die Volkswirtschaften kriseln.
«Und die Situation wird sich mit diesem Präsidenten noch verschlimmern», schimpft der Portier Filomeno in einem Mehrfamilienhaus in Copacabana im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur über Jair Bolsonaro. Brasilien habe erst ein Drittel der Krise durchgemacht und noch mindestens zwölf «harte» Wochen vor sich, sagt der ehemalige Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta in einem am Montag veröffentlichten Interview der Zeitung «Folha de S. Paulo». Während etwa Argentiniens strenge Ausgangssperre gute Ergebnisse brachte - 8068 Menschen haben sich bislang nachweislich infiziert, 373 Patienten sind gestorben -, hält der Rechtspopulist Bolsonaro nichts von Einschränkungen und ruft zu Versammlungen auf.
Mexikos linkspopulistischer Präsident Andrés Manuel López Obrador, der sich ebenfalls lange sträubte, erliess inzwischen Anti-Corona-Massnahmen. Aber eine Pflichtquarantäne gibt es auch in Lateinamerikas mit 130 Millionen Einwohnern zweitbevölkerungsreichstem Land noch nicht.
In Brasilien haben Städte und Bundesstaaten jedoch eigene Massnahmen erlassen. Selbst Rio ist geteilt in eine noch offene Südzone und eine Nordzone, in der die Stadt ein sechs Viertel in den Lockdown versetzt hat.
Wie widersprüchlich und chaotisch Brasiliens Antwort auf Corona ist, zeigte sich am Freitag, als Gesundheitsminister Nelson Teich seinen Rücktritt erklärte - nicht einmal einen Monat, nachdem Bolsonaro seinen Vorgänger Luiz Henrique Mandetta wegen Unstimmigkeiten im Umgang mit dem Virus gefeuert hatte.
«Brasilien hätte eine der besten Antworten auf diese Pandemie haben können», sagte die Brasilianerin Marcia Castro, Gesundheitswissenschaftlerin an der Harvard University, der «New York Times». Brasilien war bei Gesundheitskrisen wie Aids oder Zika ein Vorreiter unter den Schwellenländern. «Aber jetzt ist alles unorganisiert, niemand arbeitet an gemeinsamen Lösungen.»
Die Politik in Brasilien ist mehr mit sich beschäftigt als mit der Virus-Bekämpfung. Der Präsident hat mit dem Austausch von Ministern und einem Verfahren gegen sich zu tun. In Korruptionsermittlungen nahm die Bundespolizei in Rio mehrere Politiker und Unternehmer fest, die beim Kauf von Atemgeräten mehrere Millionen Euro veruntreut haben sollen. Selbst in einer Pandemie nutzen sie die Gelegenheit, um sich unrechtmässig zu bereichern. Die Bevölkerung schlägt sich irgendwie alleine durch.
Corona war in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas zunächst das Virus der Reichen gewesen. Der erste registrierte Fall war ein Geschäftsmann aus São Paulo, der nach Norditalien gereist war. Für Mexiko wurde - ähnlich wie das österreichische Ischgl - der US-Skiort Vail zum Infektionsherd, wo sich eine Gruppe mexikanischer Geschäftsleute getroffen hatte. Börsenchef Jaime Ruíz Sacristán steckte sich dort an, er starb im April. Die meisten Infektionen in Argentinien wurden zu Beginn in den wohlhabenden Vororten im Norden von Buenos Aires registriert, deren Bewohner oft ins Ausland reisen.
Mittlerweile hat sich Sars-CoV-2 immer weiter ausgebreitet, auch die ärmeren Viertel und Slums erreicht. In den ärmlichen Siedlungen - in Brasilien «Favelas», in Argentinien «Villas» genannt - fehlt es den Bewohnern oft am Nötigsten wie Wasser und Seife, zugleich leben ganze Familien in einem Raum zusammen. Abstand halten ist da kaum möglich.
Fliegende Händler und Tagelöhner, Putzfrauen und Müllsammler, Schuhputzer und Mariachi-Musiker können auch kein Homeoffice machen. Bis zu 60 Prozent in der Region haben keinen Arbeitsvertrag, keine Rücklagen und nur geringen sozialen Schutz. «Wenn wir hier nicht arbeiten, gibt uns niemand Geld», sagt Roberto Velázquez, der an einem Stand am Strassenrand in Mexiko-Stadt mit zwei Mitarbeitern weiter Tacos verkauft, der dpa. «Wir könnten unsere Familien nicht ernähren.» Derzeit kämen sie auf ein Drittel ihrer üblichen Einnahmen und gerade so über die Runden.
Der argentinische Sozialaktivist und Hochschullehrer Juan Grabois sagte in einem Interview der Zeitung «La Nación»: «Wir sind in einen perfekten Sturm geraten: drohende Staatspleite, Pandemie, Armut.» Argentinien, die zweitgrösste Volkswirtschaft Südamerikas, steckt seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise und steuert auf die nächste Staatspleite zu. Die Corona-Krise verschärft die sozialen Unterschiede noch. In einer Studie der katholischen Universität UCA in Buenos Aires heisst es: «Wir erleben nicht nur eine Epidemie, sondern auch eine neue Welle struktureller Armut, die vor allem die schwächsten Teile der Gesellschaft treffen wird.»