Coronavirus: Indien kämpft nun gegen eine Sauerstoffkrise
Die zweite Welle des Coronavirus überrollt Indien mit furchtbarer Kraft. Vielen Spitälern fehlt es an Sauerstoff, Mediziner müssen deshalb Patienten abweisen.
Das Wichtigste in Kürze
- Indien meldet am Mittwoch einen Weltrekord an Corona-Infektionen.
- Die Lage in dem Land mit 1,3 Mia. Einwohnern wird immer dramatischer.
- Vielen Spitälern fehlt es an Sauerstoff und Intensivbetten – Patienten werden abgewiesen.
Es sind dramatische Szenen, die sich vor einem Spital in Delhi abspielen: Menschen bitten Ravikanth Singh verzweifelt darum, ihren Verwandten zu helfen – doch der indische Mediziner muss sie abweisen. «Ich kann niemanden aufnehmen. Gestern sind hier zwei Menschen verstorben, 17 weitere starben in Taxis und Krankenwagen. Ich will nicht, dass ihren Familienmitgliedern das gleiche geschieht.»
Ravikanth Singh leitete mit diesen Sätzen den gestern ausgestrahlten Bericht der deutschen «Tagesschau» zum Thema Coronavirus in Indien ein. Die Lage in dem Land ist dramatisch: Die Pandemie hat das Gesundheitssystem in vielen Städten und Regionen praktisch erschöpft.
Besonders betroffen ist dabei die Hauptstadt Delhi. In der Stadt mit 29 Millionen Einwohnern wurde zur Entlastung der Spitäler am Dienstag ein einwöchiger Lockdown verhängt. Das ist auch dringend nötig: Es gibt nur noch 16 freie Intensivbetten – und es fehlt an Sauerstoff.
Das ist auch der Grund, warum Ravikanth Singh keine Patienten mehr aufnehmen kann: Er hat keinen Sauerstoff übrig. Die lokalen Medien sprechen von einer Sauerstoffkrise. Ein hohes Gericht forderte am Mittwoch, die Zentralregierung solle den Sauerstoff in der Industrie beschlagnahmen. «Bettelt, borgt oder stehlt», sagten die Richter wörtlich.
Wettrennen um medizinische Ressourcen
In einem Krankenhaus im südwestlichen Bundesstaat Maharaschtra äusserte sich gestern ein weiterer Arzt gegenüber dem Sender «NDTV» zur dramatischen Situation. Seit dem Morgen um sieben Uhr gebe es kein Sauerstoff mehr. Am Abend zuvor seien die Patienten informiert worden, dass die Vorräte ausgehen werden.
«Wenn Nachschub kommt, geht dieser an die Patienten. Wenn keiner kommt, können die Familien versuchen, ihre Angehörigen in anderes Krankenhaus zu bringen.» Sauerstoff sei seit geraumer Zeit eine Mangelware. Offenbar ist in vielen Städten und Regionen des Landes ein Wettrennen um medizinische Ressourcen im Gange.
Privatpersonen besorgen sich Sauerstofflaschen und Medikamente. Sie brauchen dringend Hilfe für ihre Angehörigen. Oder sie sorgen für den Ernstfall vor, da sie kein Vertrauen in das indische Gesundheitssystem haben.
Dramatischer Ärzte-Appell auf Youtube
Die Infektionsmedizinerin Trupti Gilada aus Mumbai hat auf Youtube einen dramatischen Appell verbreitet: «Bitte überlasst Krankenhausbetten denjenigen, die sie tatsächlich brauchen.»
Damit meint sie einzig Patienten mit Lungenentzündungen, solche die Sauerstoff brauchen, oder solche die stark auf medizinische Hilfe angewiesen sind. «Die Situation ist aussichtslos. Jeder muss jetzt auf sich aufpassen, das Coronavirus ist überall», so die Ärztin.
Die «Tagesschau» berichtet von dramatischen Szenen in und vor einem Spital in Dehli. Ein Mann soll verzweifelt vor dem Eingang gesagt, dass seine Frau sterben wird. Er sass dabei auf einem kleinen Motorrad, seine Frau hängt schlaff mit Atemnot an seiner Schulter.
Coronavirus sorgt für traurigen Weltrekord in Indien
Indien wird derzeit massiv von der zweiten Welle überrollt. Am Mittwoch meldete das Land fast 315'000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Das ist ein trauriger Weltrekord: Noch nie wurden in einem Land so viele Fälle binnen 24 Stunden verzeichnet. Gleichzeitig wurden 2000 Opfer registriert.
Das Land hat inzwischen fast 16,3 Millionen gemeldete Infektionen. Vor rund einer Woche wurde Brasilien als Land mit den zweitmeisten Fällen weltweit abgelöst. Gestorben sind mittlerweile fast 187'000 Menschen.
Warum die Zahlen zuletzt derart explodiert sind, darüber wird noch immer diskutiert. Hat es mit der Doppel-Mutation zu tun, die in dem Land wütet? Oder die verbreitete Sorglosigkeit der riesigen Menschenmassen? Viele Menschen trugen bei religiösen Festen, Wahlkämpfen oder Cricketspielen keine Masken mehr und hielten keinen Abstand.
Impfkampagne gibt Hoffnung – geht aber nicht schnell genug
Anfang des Jahres glaubte Indien, das Coronavirus grösstenteils besiegt zu haben. Die riesige Massenimpfaktion in dem Land stimmte viele Menschen hoffnungsvoll. Bisher wurde jedoch erst ein Zehntel der 1,3 Milliarden Inderinnen und Inder geimpft.
Vom Freitag an, sollen alle Erwachsenen eine Impfung bekommen können. Und am Montag kündigte das indische Gesundheitsministerium an, dass es ab Anfang nächsten Monats Impfstoffe für über 18-Jährige einführen wird.
Diese Schritte seien auch dringend notwendig, sagt die Ärztin Gilada in ihrem Youtube-Appel. «Der Impfstoff hilft auf jeden Fall gegen das Coronavirus», sagt sie und warnt erneut: «Passt auf, nehmt es nicht auf die leichte Schulter. Betet für die Menschen in den Krankenhäusern und für diejenigen, die sie versorgen.»