Luftangriff in Kunduz: Richter bemängelt Berichterstattung
Vor zwölf Jahren kam es in der afghanischen Stadt Kunduz zu einem Luftangriff. Zwei deutsche Richter bemängeln nun falsche Darstellung des Sachverhalts.
Das Wichtigste in Kürze
- Zwei deutsche Richter bemängeln die Berichtserstattung bei einem Luftangriff im Kunduz.
- Zuverlässige Quellen wären vorhanden gewesen.
Vor zwölf Jahren fand ein folgenschwerer Luftangriff im afghanischen Kunduz statt. Zwei Richter am obersten deutschen Zivilgericht (BGH), haben eine falsche Darstellung des Sachverhalts bemängelt. Die Zahl der Toten sei zu hoch.
«Leider hat sich in der Öffentlichkeit das Bild festgesetzt. Auf Anordnung des deutschen örtlichen Kommandeurs sei ohne Vorwarnung in eine Menschenmenge bombardiert worden. Dabei seien über 100 Personen ums Leben gekommen, darunter viele Zivilisten und insbesondere Kinder».
Das schreiben Ulrich Herrmann, der Vorsitzende BHG-Richter sowie BGH-Richter Harald Reiter in der «Neuen Juristischen Wochenschrift» (NJW 32/2021, S. 10).
Luftangriff in Kunduz: Darstellung sei schlicht falsch
«Diese Darstellung ist hinsichtlich der Opferzahl und -eigenschaft sowie der angeblich unterbliebenen Warnung schlicht falsch. Sie beruht letztlich wohl auf einem Propagandaerfolg der Taliban.»
US-amerikanische Kampfflugzeuge hatten in der Nacht zum 4. September 2009 zwei von den Taliban gekaperte Tanklaster bombardiert. Angeordnet hatte dies der deutsche Oberst Georg Klein. Er befürchtete, dass die Fahrzeuge als rollende Bomben benutzt werden könnten.
An der Stelle hatten sich zunächst aber auch Bewohner aus der Umgebung versammelt, um abgezapften Treibstoff zu holen.
Öffentlich zugängliche Quellen ungenutzt
In der Berichterstattung sei es unterblieben, öffentlich zugängliche Quellen zu nutzen, «die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln». Das schreiben die Juristen im Leserforum des Fachmagazins weiter. In ihrer ungewöhnlichen Wortmeldung fassen sie den Sachstand aus ihrer Sicht zusammen.
Sie gehen aber über die Umstände hinaus, auf die es für ihre eigene Entscheidung in der Sache rechtlich angekommen sei. «Sie sind jedoch für die politische Bewertung und für das Ansehen der Bundeswehr von hoher Relevanz. Deshalb erscheint uns eine Klarstellung geboten», so die beiden Juristen.
Vor dem Angriff bestätigte ein Informant den Deutschen, dass sich dort nur Aufständische aufhalten würden. So die Darstellung damals. Klagende Afghanen sind - unterstützt von Menschenrechtsorganisationen - seitdem vor deutschen Gerichten gescheitert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkannte noch im Februar kein grobes Fehlverhalten Deutschlands bei der Aufklärung des Vorfalls.
Zwei Tage nach dem Angriff sagte der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU): Ein Bericht des Gouverneurs von Kunduz weise 56 Tote und zwölf Verletzte aus. Eine vom damaligen Afghanistans Präsident Hamid Karsai eingesetzte Untersuchungskommission berichtet eine Woche später: Es habe 99 Tote, darunter 69 Taliban-Kämpfer und 30 unschuldige Zivilisten gegeben. Zahlenangaben in dieser Grössenordnung wurden seitdem vielfach wiederholt.
Sachverhalt sei dem Senat bekannt
Der richtige Sachverhalt sei dem Senat zuverlässig bekannt, schreiben die BGH-Richter nun. «Die beiden Kampfflugzeuge kreisten lärmend von 1:08 Uhr bis zum Bombenabwurf um 1:49 Uhr in nur 360 m Höhe (!) über der Szenerie.» Von den zu Beginn gut 100 Menschen vor Ort habe sich daraufhin der Grossteil umgehend in Richtung des Dorfs entfernt.
Vor den Bombenabwürfen hätten sich noch 30 bis 40 Personen im Bereich der Tankfahrzeuge befunden. «Und dies waren sicherlich keine Zivilisten mehr, geschweige denn Kinder». Danach hätten immerhin mehr als zehn Personen zu den abgestellten Fahrzeugen rennen können.
«Dies alles ist deutlich auf den Infrarotaufnahmen aus den Flugzeugen zu sehen. Diese Aufnahmen sind in öffentlicher Verhandlung des Landgerichts Bonn vorgeführt und ausgewertet worden», so die Richter. Und: «Eine entsprechende, auf sachverständiger Grundlage erstellte Auswertung der Videos ist im Internet verfügbar. Es ist im abrufbaren Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts in dem gegen den Kommandeur geführten Ermittlungsverfahren enthalten.»
Dort sei auch ausgeführt, dass die Afghanistan-Truppe ISAF Spuren von lediglich 12 bis 13 getöteten Personen gefunden habe. «Es ist sehr ärgerlich, dass öffentlich zugängliche Quellen, die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln, von der Allgemeinpresse ungenutzt blieben. Menschlich höchst bedauerlich ist, dass der seinerzeitige Kommandeur in der Öffentlichkeit deshalb weiterhin in einem völlig falschen Licht steht.»