Flugzeugabsturz im Iran: Kanada geht von Abschuss aus
Das Wichtigste in Kürze
- Nach dem Absturz einer ukrainischen Passagiermaschine bei Teheran geht die kanadische Regierung von einem Abschuss durch den Iran aus.
«Wir haben Informationen von mehreren Quellen von unseren Alliierten und eigene Informationen. Diese Informationen deuten darauf hin, dass das Flugzeug von einer iranischen Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde», sagte Ministerpräsident Justin Trudeau in einer TV-Ansprache. Dies könne durchaus versehentlich geschehen sein.
Bei dem Vorfall inmitten des bewaffneten Konflikts zwischen dem Iran und den USA waren am Mittwoch mehr als 170 Menschen ums Leben gekommen - darunter 63 Kanadier.
«Die Nachricht ist zweifellos ein weiterer Schock für die Familien (der Opfer), die angesichts dieser unbeschreiblichen Tragödie bereits trauern», sagte Trudeau und wiederholte seine Forderung nach einer umfassenden internationalen Untersuchung. «Die Familien der Opfer und alle Kanadier wollen Antworten. Ich will Antworten.» Der Premier ging auf Nachfrage nicht darauf ein, welche Informationen genau die kanadische Regierung habe. Die Beweise seien jedoch «sehr klar».
Der britische Premierminister Boris Johnson sprach einer Mitteilung zufolge von einem «Korpus an Informationen», der auf einen Abschuss durch eine iranische Rakete hinweise. «Wir arbeiten eng mit Kanada und unseren internationalen Partnern zusammen und es bedarf einer vollständigen und transparenten Untersuchung», so Johnson.
Vor Trudeaus Ansprache hatten US-Medien berichtet, dass die Boeing-Maschine von einer iranischen Flugabwehrrakete getroffen worden sein könnte. US-Regierungsbeamte hielten dies für hoch wahrscheinlich, berichtete der TV-Sender CBS unter Berufung auf namentlich nicht genannte Quellen. Das Nachrichtenmagazin «Newsweek» berichtete unter Berufung auf zwei Pentagon-Mitarbeiter, dies sei wohl versehentlich geschehen.
Die Annahme sei, dass das iranische Luftabwehrsystem aktiv gewesen sein könnte, nachdem am Mittwoch vom Iran aus Raketen auf von US-Soldaten genutzte Militärstützpunkte im Irak abgefeuert worden waren, berichtete «Newsweek». Der Iran hatte zuvor Spekulationen über einen Abschuss bereits zurückgewiesen.
CBS berichtete, US-Geheimdienste hätten Signale von einem Radar empfangen, das eingeschaltet worden sei. US-Satelliten hätten ausserdem den Start von zwei Boden-Luft-Raketen kurz vor der Explosion des Flugzeugs entdeckt. Der Sender CNN meldete unter Berufung auf mehrere US-Behördenvertreter, man gehe zunehmend von einem versehentlichen Abschuss durch den Iran aus. Dieser «Arbeitstheorie» lägen die Analyse von Satelliten-, Radar- und anderen elektronischen Daten zugrunde, die routinemässig vom Militär und den Geheimdiensten der USA gesammelt würden.
US-Präsident Donald Trump heizte Mutmassungen über die Absturzursache der Maschine unterdessen an. «Ich habe meinen Verdacht», sagte Trump im Weissen Haus. «Ich will das nicht sagen, weil andere Menschen auch diesen Verdacht haben. Es ist eine tragische Angelegenheit.» Trump sagte weiter: «Jemand könnte einen Fehler gemacht haben.» Auf die Frage, ob die Maschine aus Versehen abgeschossen worden sein könnte, sagte er allerdings: «Das weiss ich wirklich nicht.»
Die iranischen Behörden bekräftigten, dass eine technische Ursache zu der Katastrophe geführt habe. «Wegen eines technischen Defekts hat die Maschine Feuer gefangen, und dies führte zum Absturz», sagte Verkehrs- und Transportminister Mohammed Eslami der Nachrichtenagentur Isna. Spekulationen über einen «verdächtigen» Absturz und Gerüchte über einen Abschuss der Boeing 737 oder eine Terroroperation seien alle falsch. Wie er zu diesen Erkenntnissen kam, sagte Eslami nicht. Die Ukraine schliesst hingegen einen Raketenangriff oder einen Terroranschlag als Ursache nicht aus. Kiew schickte eigene Experten in den Iran.
Der Leiter der iranischen Luftfahrtbehörde bezeichnete einen Abschuss der Passagiermaschine als «wissenschaftlich unmöglich» und wies entsprechende Spekulationen als «unlogisch» zurück. «Die Behauptung, dass die Maschine von einem iranischen Raketenabwehrsystem getroffen worden sei, kann ganz und gar nicht stimmen, weil zur selben Zeit des Absturzes mehrere andere Maschinen im iranischen Luftraum unterwegs waren», sagte Ali Abedsadeh laut Nachrichtenagentur Fars. Im Iran gebe es zwischen der militärischen und zivilen Luftfahrtbehörde eine einwandfreie Koordination.
Die Ermittler wollen nun den kurzen Flug rekonstruieren. In einem am Donnerstag veröffentlichten vorläufigen Bericht der iranischen Luftfahrtbehörde heisst es, die Maschine habe versucht, zurück zum Flughafen zu fliegen. Augenzeugen hätten berichtet, die Maschine habe gebrannt. Als sie am Boden aufschlug, sei sie explodiert - wohl weil das Flugzeug grosse Mengen Kerosin getankt hatte.
Die Experten erhoffen sich mehr Informationen durch die Auswertung der beiden Blackboxen mit den Flugdaten. Die Boxen enthalten die Flugdatenschreiber und einen Stimmenrekorder mit Aufnahmen der Gespräche im Cockpit. Diese sollten nach gründlichen Untersuchungen an die Ukraine übergeben werden, kündigte die Luftfahrtbehörde an. Die Geräte seien aber beschädigt worden. Kurz vor dem Absturz habe auch kein Funkkontakt mehr zu den Piloten bestanden.
Kiew zog vier Versionen in Betracht: Alexej Danilow vom ukrainischen Sicherheitsrat schrieb auf Facebook, es sei möglich, dass die Maschine von einer Rakete des russischen Typs «Tor» getroffen worden sei. Deshalb seien Experten an der Untersuchung beteiligt, die bereits 2014 beim Abschuss des malaysischen Fluges MH17 durch eine Flugabwehrrakete über der Ostukraine ermittelt hätten. Geprüft werden auch ein Zusammenstoss mit einem Flugobjekt wie etwa einer Drohne, ein Triebwerksschaden und ein Terroranschlag.
Die Ukrainer gedachten der 176 Todesopfer. Präsident Wolodymyr Selenskyj rief einen Tag der Trauer aus. Die Fahnen wehten auf halbmast. In den Fernsehprogrammen und im Radio sollte auf Unterhaltungsformate verzichtet werden. Am Kiewer Flughafen Boryspil legten viele Menschen Blumen nieder. Dort hätte die Maschine eigentlich am Mittwochmorgen gegen 8.00 Uhr Ortszeit landen sollen.
Aufgrund des Konflikts im Nahen Osten sollen Flüge im irakischen Luftraum aus Sicht der europäischen Flugaufsicht (EASA) vermieden werden. Das sei eine Schutzmassnahme, teilte die EASA auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Zudem haben den Angaben der EASA zufolge bereits manche europäischen Fluggesellschaften ihre Routen angepasst.