Belarus: Nobelpreisträgerin Alexijewitsch warnt vor Blutvergiessen
Als prominenteste Stimme der Demokratiebewegung in Belarus (Weissrussland) ruft die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zum Widerstand gegen Staatschef Alexander Lukaschenko auf.
Das Wichtigste in Kürze
- «Wir dürfen nicht nachgeben», sagt die 72-Jährige mit Blick auf die Proteste gegen Lukaschenko.
Unter dem Jubel und Beifall ihrer Fans steht sie an diesem Mittwoch in Minsk in der Frunse-Strasse 19 - vor dem Ermittlungskomitee, das die scharfe Kritikerin Lukaschenkos vorgeladen hat. Die Schriftstellerin hat nicht nur den Rücktritt des 65-jährigen Lukaschenko gefordert. Sie sitzt auch im Präsidium des neuen Koordinierungsrates der Zivilgesellschaft für einen friedlichen Machtwechsel in der Ex-Sowjetrepublik.
«Gott bewahre, dass Blut vergossen wird», sagt sie mit Blick auf die gespannte Lage im Land. In einem violetten Anzug mit Kapuze zeigt sie sich nicht nur besorgt, weil die Polizei wieder zuschlagen könnte. Sie sieht auch die Gefahr, dass Lukaschenko-Unterstützer mit der rot-grünen Staatsflagge auf der einen Seite und seine Gegner mit der historischen weiss-rot-weissen Flagge auf der anderen Seite aneinander geraten könnten. Sie wünsche sich, dass die Menschen beide Fahnen tragen und gemeinsam ein neues Belarus aufbauen.
Die Lage in der früheren Sowjetrepublik ist seit der Präsidentenwahl vor zweieinhalb Wochen angespannt. Der 65-jährige Lukaschenko liess sich nach dem Urnengang zum sechsten Mal in Folge zum Sieger ausrufen. 80,1 Prozent der Wählerstimmen hatte er sich zusprechen lassen. Das Ergebnis gilt als grob gefälscht. Die EU-Staaten haben die Wahl nicht anerkannt. China und Russland haben dagegen Lukaschenko zum Sieg gratuliert.
Es dürfe nicht zu einem Bürgerkrieg kommen, mahnt Alexijewitsch. «Das ist sehr gefährlich.» Alexijewitsch betont unter Beifall: «Wir müssen mit der Kraft unserer Überzeugungen gewinnen.» Die Autorin, die 2015 den Literaturnobelpreis erhielt, kritisiert auch die Polizeigewalt der ersten Tage nach der umstrittenen Präsidentenwahl vom 9. August gegen friedliche Demonstranten: «Was wir da in den ersten drei Tagen gesehen haben, diese Konfrontation, als sie aus den Menschen Fleisch gemacht haben, das ist so vergangenes Jahrhundert.»
Die Veränderung könne nur durch Dialog gelingen, sagt sie und spricht damit das erklärte Ziel Lukaschenkos an, den Koordinierungsrat zu zerstören. Dort arbeiten neben Politikern und Kulturschaffenden unter anderem auch Wissenschaftler und Unternehmer mit. «Wir brauchen Hilfe», sagt Alexijewitsch angesichts der bisher erfolglosen Versuche, einen Dialog mit dem Machtapparat zu beginnen. Bisher rede Lukaschenko nur mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Vielleicht sei es möglich, dass der Westen über Putin auf Lukaschenko einwirken könne, damit er sich gesprächsbereit zeige. Es könne nicht sein, dass Lukaschenko sein Leben und das seiner Familie über das Volk stelle, sagt sie. Ihre Unterstützer rufen ihr in Minsk zu «Sweta, Sweta, wir lieben Sie!». Eine Frau hält ein Schild: «Krieg gegen Sweta - das ist Krieg gegen das Gute.» Kurz nach ihrer Vorladung im Ermittlungskomitee sagt Alexijewitsch, dass sie die Aussage verweigert habe und weiter Zeugin in dem Strafverfahren gegen den Koordinierungsrat bleibe.
Lukaschenkos Machtapparat geht indes weiter hart gegen Kritiker vor. Nach Angaben der Behörden gab es mehr als 50 neue Festnahmen bei Protesten gegen «Europas letzten Diktator» in Minsk und in anderen Städten. Zwei prominente Vertreter des Rates, Olga Kowalkowa und Sergej Dylewski, wurden zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Sie hatten Proteste gegen Lukaschenko organisiert. Die Anführerin der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, rief in ihrem Exil im benachbarten EU-Staat Litauen die Behörden auf, die beiden freizulassen und den Druck auf das Gremium zu beenden.
Der deutsche Aussenminister Heiko Maas kritisierte das Vorgehen der Führung in Minsk. Er nannte es «absolut inakzeptabel, dass Mitglieder des Koordinierungsrates verhaftet, verhört und eingeschüchtert» würden. Die EU-Aussenminister werden bei ihrem Treffen am Donnerstag und Freitag in Berlin über den weiteren Umgang mit der Lage in Belarus diskutieren, wie der Politiker am Mittwoch sagt. «Schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstösse gegen demokratische Grundprinzipien werden wir nicht unbeantwortet lassen.»
Der Generalstab in Minsk hatte mitgeteilt, dass die Streitkräfte nicht nur gegen äussere Bedrohungen aktuell in voller Gefechtsbereitschaft seien. Die Armee stehe auch bereit, um die Gefahr im Land selbst abzuwenden, sagte Generalstabschef Alexander Wolfowitsch mit Blick auf die Proteste. Viele Menschen in Belarus befürchten, dass Lukaschenko eine Militärdiktatur errichten könnte.
Wegen der Lage in der Ex-Sowjetrepublik hatte die EU bereits Sanktionen auf den Weg gebracht. Das Nachbarland Litauen will seine unabhängig davon verhängten Strafmassnahmen ausweiten. Sie sollen sich gegen 118 Personen richten. Zuvor waren 32 Namen auf der Liste - darunter Lukaschenko selbst. Den Betroffenen solle die Einreise in das EU-Land verboten werden.
Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda beklagte ein wieder schärferes Vorgehen gegen die Proteste. «Offenbar ist es so: Je mehr Angst das Regime hat, desto unangemessener reagiert es auf die Situation und desto brutaler behandelt es sein eigenes Volk», sagt Nauseda der Agentur BNS zufolge in der Stadt Birzai.
Unterdessen gingen die Proteste auch am Mittwoch mit Strassenaktionen und Arbeitsniederlegungen in Staatsbetrieben weiter. Ein Streikorganisator im Minsker Traktorenwerk sei zu zehn Tagen Arrest verurteilt worden, berichtete das Nachrichtenportal Tut.by. Viele Menschen – teils auch im Staatsdienst und den Sicherheitskräften – haben sich bereits öffentlich von Lukaschenko abgewendet. Der Sicherheitsapparat, zu dem neben Polizei und Armee auch der mächtige Geheimdienst KGB gehört, hält ihm aber bisher die Treue.