Besser leben ohne Autos?
Allein auf den deutschen Strassen sind 48 Millionen Pkw unterwegs - sechs Millionen mehr als vor zehn Jahren. Trotz täglicher Staus denken viele Grossstädter, ohne Auto gehe es nicht. Doch einige Metropolen wollen das Gegenteil beweisen.
Das Wichtigste in Kürze
- In den Metropolen Europas ähnelt sich das Bild: Abertausende Autos schieben sich durch die Strassen, parken allerorten und verbrauchen massig Platz.
Platz, den spielende Kinder, Radfahrer und Fussgänger oft nicht haben.
Auch andere gefährliche «Nebenwirkungen» der autogerechten Stadt werden toleriert: Gesundheitsschädliche Abgase und Lärm, dazu EU-weit fast 19.000 Verkehrstote jedes Jahr. Doch einige Grossstädte steuern teils radikal um und wollen eine «Verkehrswende» einleiten - auch aus Sorge vor der eskalierenden Klimakrise.
Ob in Paris, Barcelona oder Berlin: «Autofreie Oasen» werden eingerichtet sowie geschützte Radwege und Flaniermeilen. Gewonnen werden so mehr Lebensqualität und Sicherheit, wie Planer und Politiker betonen. Nicht wenige Autofahrer aber sehen ihre Freiheit und auch liebgewonnene Privilegien in Gefahr. Beispiele:
Kopenhagen - Fünfmal mehr Räder als Autos
Die dänische Hauptstadt nennt sich stolz und selbstbewusst «Verdens bedste cykelby» - weltbeste Fahrradstadt. Die Verkehrswende zugunsten der Sicherheit von Radfahrern hat sie schon lange hinter sich - das Resultat sind Radwege, die oft fast so breit sind wie die Autospuren. Mehr Fahrräder als Autos fahren täglich durch die Innenstadt, knapp die Hälfte der Wege zur Arbeit, zur Uni und zur Schule werden per Rad zurückgelegt. Täglich radeln die Kopenhagener somit mehr als 1,4 Millionen Kilometer - Tendenz steigend. Die etwa 630.000 Einwohner besassen 2020 mehr als 730.000 Fahrräder, aber nur rund 130.000 Autos.
Das reicht den dänischen Hauptstädtern aber nicht, die Infrastruktur soll weiter verbessert werden. Ein Ziel: 2025 soll niemand mehr im Kopenhagener Strassenverkehr umkommen. Passenderweise will die Stadt bis zu dem Jahr auch CO2-neutral werden, was mit lauter Abgasen im Zentrum kaum vorstellbar wäre. Dabei zählt Kopenhagen schon heute zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität weltweit - auch dank seiner Radinfrastruktur.
Barcelona - Mehr Grün und Stille mit «Superblocks»
Die Metropole mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern soll nach dem Willen der Stadtverwaltung ruhiger, sicherer und grüner werden - und setzt dabei seit 2016 auf stark verkehrsberuhigte «Superblocks». Dabei werden immer mehrere Häuserblocks zu einer Einheit mit rund 500 Metern Aussenlänge zusammengefasst. Neben dem Lieferverkehr dürfen nur Anwohner reinfahren. Geparkt werden muss in Tiefgaragen, Parkhäusern oder notfalls ausserhalb.
Die schachbrettartig angelegten Strassen bleiben zwar erhalten, werden im Inneren dieser auf Katalanisch Superilles genannten Inseln aber stark verkehrsberuhigt und begrünt. Es gehe um nicht weniger als «die Rückeroberung der Strasse» durch die Menschen, schrieb die Zeitung «El País».
Dass sich Fussgänger auf schmalen Bürgersteigen und zwischen parkenden Autos drängeln, soll ein Ende haben. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt zehn Kilometer pro Stunde, was auch für Fahrräder und E-Roller gilt, Fussgänger haben Vorfahrt. Der restliche Autoverkehr muss aussen um die Superblocks herumfahren.
Damit wird für die Bewohner dieser Inseln, die wie kleine Dörfer wirken, sauberere Luft, Ruhe und viel Platz für soziale Begegnungen, Kulturveranstaltungen, Spielplätze und mehr von dem bisher in Barcelona raren Grün gewonnen. Einige Superblocks gibt es schon, sozusagen Versuchslabore, nun soll das Konzept forciert und in zehn Jahren auf fast das ganze Stadtgebiet ausgeweitet werden.
Aber beim Übergang von der autogerechten Stadt zu einem Lebensraum für Menschen lauern Probleme. Ärmere Menschen werden aus diesem attraktivem Wohnumfeld verdrängt. «Hier steigen die Mieten, seit bekannt ist, dass es eine Supermanzana geben wird», kritisieren Mieter im Stadtteil Eixample in der Zeitung «La Vanguardia». Läden und Restaurants klagen über teils ausbleibende Kundschaft. Zudem muss der Individualverkehr gesenkt werden, wenn es auf den verbleibenden Durchfahrtsstrassen nicht zum völligen Verkehrsinfarkt kommen soll.
Paris - «Coronapistes» und Tempo 30
Die Corona-Krise gab den Bemühungen nochmals richtig Aufschwung, mehr Radfahrrouten quer durch Frankreichs Metropole zu schaffen. Viele der mit Betonblöcken provisorisch geschaffenen «Coronapistes» genannten Pop-Up-Radwege werden seitdem in dauerhafte Radfahrstreifen umgebaut. Ausserdem wurde im Herbst fast flächendeckend im Stadtgebiet Tempo 30 eingeführt, einige Hauptachsen ausgenommen. Kontrolliert und beachtet wird die neue Regel zwar wenig und oft stockt oder staut sich der Autoverkehr ohnehin, die Massnahme gilt aber als Symbol für eine Verkehrswende, die Bürgermeisterin Anne Hidalgo seit Jahren vorantreibt. Dazu gehört auch das Sperren mancher Strassen für Fussgänger und das Schaffen von mehr Grünflächen.
Obwohl der Radverkehr etwa dank der vielen Leihfahrrad-Stationen deutlich zugenommen hat, stösst die Verkehrswende auch auf Widerstand. Handwerker und Lieferanten etwa klagen, dass sie oft nicht mehr in der Nähe ihrer Kunden parken können und Strafzettel anhäufen. Eine autofeindliche Politik wird Hidalgo vorgeworfen und schon im Pariser Umland, das nicht mehr durch die Metro erschlossen ist, stossen Massnahmen wie geplante Beschränkungen auf der Stadtautobahn auf Widerstand.
Und ein Paradies für Radfahrer ist Paris alleine durch mehr Radwege noch nicht geworden. Autofahrer machen im Zweifel das Recht des Stärkeren geltend.
Berlin - Mehr Vogelgezwitscher dank Pollern
In der Kreuzberger Körtestrasse hört man tagsüber wieder die Vögel zwitschern - dank der Poller, die den Autoverkehr seit dem vergangenen Frühjahr an der Durchfahrt hindern. Der Clou: Feuerwehr und Rettungswagen können einen der Poller im Notfall per Fernbedienung sekundenschnell versenken und durchfahren. Seit der Sperrung können sich die Gäste vor den Cafés und Restaurants in der Körtestrasse wieder ruhig unterhalten - weil der Autolärm verstummt ist. Noch viel mehr solcher autofreien «Oasen» in dicht besiedelten Wohnkiezen wünscht sich auch Berlins neue Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne). Aus ihrer Sicht sollten mehr Berliner ihr Auto freiwillig stehen lassen oder gleich ganz abschaffen. Auch ein bisschen Druck soll helfen: Das Parken müsse vielerorts gebührenpflichtig werden oder verteuert werden, sagte sie vergangene Woche im rbb.
Wie in Paris «poppten» im Zuge der Pandemie auch in Berlin zahlreiche Radwege an Hauptstrassen auf, abgetrennt wurde zumeist eine von zwei Auto-Spuren. Oft rollen die Radfahrer, die immer mehr werden, nun an langen Autoschlangen vorbei: Etwa auf dem Kottbusser Damm, dessen eine Fahrspur ohnehin immer in zweiter Reihe zugeparkt war. Oder auf der Kantstrasse, wo nun auch ein Modellprojekt für nachhaltigen Lieferverkehr starten soll: Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf will einen Grossteil der Sendungen in der City West künftig per Lastenrad zustellen lassen. Ab Mai sollen dafür zunächst auf der Kantstrasse Cargo-Bikes viele Kleintransporter und Lkw ersetzen.
London - Bessere Luft auch als Gerechtigkeitsfrage
Bürgermeister Sadiq Khan will die Autokilometer in der britischen Hauptstadt bis 2030 um gut ein Viertel reduzieren - als Teil des Plans, London bis zum Ende des Jahrzehnts klimaneutral zu machen. Kürzlich sagte er in einer Schalte mit Journalisten, viele nationale Regierungen verzögerten effektiven Klimaschutz. «Aber wir sind die Macher!» Khan ist aktuell Vorsitzender der Initiative C40, in der ambitionierte Städte in aller Welt im Kampf gegen die Klimakrise zusammenarbeiten.
Ein Auto-Pendler, der täglich unterwegs sei, verbringe im Jahr durchschnittlich mehr als 150 Stunden im Stau, also mehr als sechs Tage, rechnete Khan vor. Ein Ausbau der Radwege soll Autofahrten überflüssig machen. Ausserdem sollen die Niedrig-Emissionszonen, in die bestimmte Fahrzeuge nicht fahren dürfen oder für die Gebühren anfallen, ausgeweitet werden.
Der sozialdemokratische Politiker kämpft seit Jahren für die Verbesserung der Luftqualität in London. Darin sieht er auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Die ärmsten Londoner lebten in den Vierteln mit der schlechtesten Luftqualität, sagte Khan - dabei besässen sie pro Kopf die wenigsten Autos.